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Die große Befreiung: Schwule Großväter erinnern sich

Illustration: Sabine Weiß

Die Szene ist fast 50 Jahre her. Und doch erinnert Manfred* sich so deutlich daran, als wäre es erst gestern gewesen: »Ich sehe es noch vor mir. Ich steige aus dem Zug aus und entdecke am Bahnsteig diesen Zeitungsstand. Dort hängt ›him‹, das Magazin mit dem Mann. Das habe ich gekauft und darin zum ersten Mal über Homosexualität gelesen. Plötzlich ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Endlich wusste ich meine Gefühle einzuordnen.«

Anfang der 1970er Jahre war das. Kurz zuvor hatte die Bundesregierung den Paragrafen 175 gelockert, der bis dahin jegliche sexuellen Kontakte zwischen Männern unter Strafe gestellt hatte. Nun galt das nur noch, wenn Minderjährige beteiligt waren. Seit dieser Änderung im Juni 1969 konnten Homosexuelle sich erstmals öffentlich äußern; erste schwule Magazine entstanden. »Das war die große Befreiung«, erzählt Manfred. Erleichterung schwingt in seiner Stimme mit.

Heute ist er 84 Jahre alt, damals war er nicht ganz 40 und lebte ein gutbürgerliches Leben. »Mit 35 Jahren hatte ich eine Ehe, zwei Kinder und ein Haus gebaut.« Und doch: Die Gefühle, das Verlangen nach dem gleichen Geschlecht, waren unterschwellig immer da.

»Aber ich wusste nicht damit umzugehen«, sagt Manfred. »Ich bin mir immer vorgekommen wie jemand, der ganz extrem empfindet. Ich hatte das Gefühl, mein Verlangen sei nicht richtig.« Die Liberalisierung ab 1969 bringt den Umschwung in seinem Leben. Er erzählt seiner Frau von seiner Neigung, die Ehe zerbricht. Aber man geht nicht im Groll auseinander. »Als Schwuler kann man einer Frau gar nicht die emotionale Zuwendung geben, die sie braucht. Die Frau wird verrückt dabei.« Seine Frau, erzählt Manfred voll Dankbarkeit, sei zwar geschockt gewesen, aber dennoch verständnisvoll. »Sie hat das nicht an die große Glocke gehängt. Da kenne ich ganz andere Fälle, in denen der Mann öffentlich angeprangert wurde.«

Außerdem ist Manfred aus einem anderen Grund dankbar für seine Ehe: Die Tatsache, dass er mal verheiratet war, Kinder und Enkel hat, bewahrt ihn bis heute vor Nachfragen nach seinem Lebenswandel. Geschieden zu sein, das ist gesellschaftlich anerkannt. »Und weil ich Kinder habe, ist meine Umwelt nicht im Entferntesten auf die Idee gekommen, dass die Umstände ganz anders sind.« Ein »gesellschaftliches Schutzschild« nennt Manfred das; es lässt ihn seine Homosexualität weitgehend ungestört leben. Im Beruf hat der ehemalige Ingenieur sich nie geoutet, bis heute wissen nur die allernächsten Angehörigen von seiner Homosexualität.

Wenn Manfred über seine Gefühle und Gedanken reden will, dann tut er das beim Verein Fliederlich, dem schwul-lesbischen Zentrum Nürnberg. Einmal wöchentlich trifft sich hier die Gruppe 60+ zum – ja, das darf man so sagen – Kaffeeklatsch. Wenn man hier ins Gespräch kommt, tritt ein Muster immer wieder zutage: Viele der Männer haben eine heterosexuelle Vergangenheit, manche waren in jungen Jahren verheiratet – aus Unwissenheit um die eigenen Gefühle oder um den gesellschaftlichen Konventionen Genüge zu tun.

Auch Adriano* ist einer der schwulen Großväter. In seiner Jugend hat er erste Erfahrungen mit dem gleichen Geschlecht gemacht, man habe innerhalb der Clique »ein bisschen miteinander gespielt«, wie Adriano es formuliert. »Doch in meinem Kopf war immer das Bild: Als Jugendlicher ist es okay, mit Jungs rumzumachen. Aber danach lernst du ein nettes Mädchen kennen, heiratest und kriegst Kinder.«

“Irgendwann ging ein Ventil auf”

Genau so ist es im Leben des heute 73-Jährigen auch gekommen: 33 Jahre war er verheiratet, drei Kinder sind aus der Ehe hervorgegangen. »Aber irgendwann ging ein Ventil auf. Ich musste wieder etwas mit einem Mann haben. Das ist wie eine Droge«, erzählt Adriano. Auch er hatte das Glück, in seiner Familie auf viel Verständnis zu treffen. Auch er, der für die Kirche arbeitete, hat sich im Beruf nie geoutet.

Es ist ein Paradox. In den vergangenen 50 Jahren ist unsere Gesellschaft deutlich liberaler geworden. Der Schwulen-Paragraf 175 wurde mehrfach gelockert und 1994 ganz abgeschafft. Erst in diesem Frühling beschloss die Bundesregierung, nach dem 175er-Paragrafen verurteilte Homosexuelle zu rehabilitieren und zu entschädigen. Politiker, Sänger und andere Prominente tragen ihre Homosexualität inzwischen ganz selbstverständlich nach außen, man denke nur an den ehemaligen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit oder Schlagersänger Patrick Lindner. Und neuerdings dürfen Schwule und Lesben sogar ganz offiziell heiraten.

Gleichzeitig gaben 2013 bei einer Umfrage der EU 46 Prozent der befragten Homosexuellen in Deutschland an, im Jahr zuvor wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert worden zu sein. Und im Alltag halten viele, vor allem ältere Schwule, ihre Neigung unter Verschluss, sind dankbar für das gesellschaftliche Schutzschild, das ihnen eine eventuelle Ehe aus frühen Jahren gibt.

Auch Andreas, heute 75 Jahre alt, erzählt von seinem Hetero- und seinem Homoleben, stand mit Mitte 30 kurz vor der Hochzeit mit einer Frau. In seinem Hetero-Freundeskreis sei bis heute nie darüber gesprochen worden, warum er sein Leben lang Junggeselle blieb. Es sei einfach nie wichtig gewesen, glaubt der Oberpfälzer, »denn ein Freund wird bei uns nicht nach seiner Sexualität beurteilt«. Trotzdem trennt er seine zwei Lebenswirklichkeiten und sagt klipp und klar: »Ich habe einen Hetero-Bekanntenkreis und einen schwulen Kreis.«

Zum schwulen Kreis gehört auch Hans. Mit 57 Jahren steht er noch im Berufsleben. Zweimal hat er sich in seinem Job als Altenpfleger bereits geoutet, immer wurde er danach von Kollegen gemieden. Seither hat er sich geschworen: »Ich sage das nie und nimmer mehr.« Deshalb hat er, der in jungen Jahren nicht verheiratet war, sich eine »Scheinfrau« zugelegt. »Das ist eine gute Freundin aus einer anderen Stadt, die darüber auch Bescheid weiß.«

Man kann mit den Männern im Treff 60+ bei Fliederlich lang und trefflich darüber diskutieren, wie akzeptiert Homosexualität in der heutigen Gesellschaft ist. Mal ist da von Papst Franziskus die Rede, der 2016 sagte, Homosexuelle verdienten von der Kirche eine Entschuldigung. Mal geht es um Verschleierungstaktiken, die Schwule bis heute anwenden. Mal darum, dass Jugendliche Vorbilder brauchen, um sich eben nicht vermeintlichen gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen; Vorbilder etwa in Form von homosexuellen Paaren in Schulbüchern.

Der Frau viel Leid erspart

Denn Manfred ist überzeugt: »Wäre die Gesellschaft früher nicht so restriktiv gewesen, hätte ich überhaupt etwas von Homosexualität erfahren können, hätte ich das Magazin schon 1955 am Zeitungsstand gefunden, dann wäre ich nie in eine Ehe hineingeschlittert. Das hätte meiner Frau viel Leid erspart.« Dabei sei es doch so einfach: Genauso wie Hetereosexuelle ihre Gefühle nicht ändern können, so können das auch Homosexuelle nicht. »Die erotische Attraktion kann man nicht willentlich beeinflussen.«

Nach all den Jahren scheint der 84-Jährige seinen Frieden mit seiner Lebensgeschichte gemacht zu haben. Zu den Kindern hat er bis heute ein gutes Verhältnis. Und die Enkel? »Die wissen nichts von meiner Orientierung. Ich hätte zwar nichts dagegen, aber das müssten ihnen ihre Eltern im intimen Kreis erzählen.«

Adriano hat diesen Schritt schon vollzogen. Seine ganze Familie kennt seinen Partner, habe ihn von Anfang an akzeptiert. »Wir treffen uns auch regelmäßig und feiern zusammen.« Bei der Taufe des jüngsten Enkels etwa war er mit seinem Partner genauso eingeladen wie seine Ex-Frau mit ihrem neuen Lebensgefährten. »Da gab es eben zwei Omas und vier Opas.«

* alle Namen geändert

Annika Peißker

 

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