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Die Sehnsucht vergeht nie

Achim Burek floh als Kind aus Schlesien.

Gewalt und Flucht – dieses Schicksal haben nicht nur Migranten erlitten, die aktuell in Deutschland Schutz suchen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden Millionen Deutsche unter anderem aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien vertrieben. In ihre zwangsgeräumten Häuser zogen Menschen ein, die selbst von der sowjetischen Armee aus dem damaligen Ostpolen verdrängt worden waren. Ein einziger Kreislauf von Vertreibung und Recht des Stärkeren. Was macht das mit den Menschen und ihrem Bedürfnis nach Heimat und Zugehörigkeit?

Achim Burek lebt seit dem Jahr 2000 in Nürnberg. Der Rentner beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte der einstigen Reichsstadt, er gibt sein Wissen bei Führungen durch die Altstadt-Gassen und die Felsenkeller weiter: »Nürnberg ist meine Heimat geworden«, betont er. Aufgewachsen ist der gelernte Schriftsetzer im Osnabrücker Land, doch seine Wurzeln liegen ganz woanders.

Seine Vorfahren waren Hugenotten, die wegen ihres Glaubens Frankreich verlassen hatten. Bureks Großeltern schließlich besaßen einen Bauernhof im einstigen Kirschfeldau in Niederschlesien. Dort verbrachte der kleine Achim – Jahrgang 1942 – die ersten Lebensjahre bis zum März 1945. Die deutsche Wehrmacht floh auf dem Rückzug Hals über Kopf, die sowjetische Armee rückte rasch nach. Eines Tages tauchten russische Soldaten am Hof auf und wollten das Vieh mitnehmen. Als Bureks Großvater sich ihnen mit einem Gewehr in den Weg stellte, um dies zu verhindern, wurde er einfach erschossen. Die Soldaten vergewaltigten Bureks Mutter und zogen weiter. Es war klar, dass die Deutschen nicht mehr auf dem landwirtschaftlichen Gut bleiben konnten. Mutter, Großmutter und eine Nachbarin fuhren mit Achim auf dem Planwagen in einem Treck nach Westen. Die Großmutter starb unterwegs an Diphterie.

An diese chaotischen, furchtbaren Ereignisse hat der heute 82-Jährige keine eigene Erinnerung, er war damals erst zweieinhalb Jahre. Seine Mutter erzählte ihm später von den dramatischen Geschehnissen und der Not – als sie beispielsweise Kartoffelschalen aßen, um überhaupt etwas im Magen zu haben. »Wir hatten auch Kirschen und Äpfel in Einmachgläsern dabei, das hat uns gerettet«, erzählt Achim Burek. Im Osnabrücker Land, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte, lebte er sich rasch ein. Er identifizierte sich mit dem Landstrich, schrieb sogar eine Chronik über sein Dorf.

Bleibendes Trauma

Nach Niederschlesien, dem heutigen Westpolen, ist er nie gekommen, obwohl er sich mit der Geschichte seiner Familie beschäftigt. Warum? »Meine Mutter wollte auf keinen Fall dorthin zurück, das Thema war für sie erledigt. Sie schwieg, wenn ich die Frage einer Reise dorthin angeschnitten habe«, erklärt der Wahlnürnberger, »sie wollte einen Schlussstrich ziehen und so mit den schrecklichen Erlebnissen fertig werden.«

Wegen dieser entschiedenen Haltung der Mutter hatte auch er kein Verlangen, sich im heutigen Westpolen auf Spurensuche zu begeben. Er besitzt keine Fotos vom Bauernhof, keine Lieblingstasse der Großeltern, kein Spielzeug aus der Zeit – keinerlei Andenken an jene Vergangenheit. Burek besuchte auch nie die großen Vertriebenen-Treffen in Nürnberg, bei denen Hunderttausende aus den einstigen deutschen Ostgebieten Kontakt untereinander gesucht hatten. Bei den Unterhaltungen mit seinem Sohn und seiner Enkelin ist Niederschlesien kein Thema: »Den beiden fehlt der Bezug, sie leben in einer ganz anderen Welt.«

Burek war im Berufsleben als Verkäufer und Berater viel in Deutschland unterwegs. Hatte der häufige Ortswechsel seine Ursache vielleicht in der Entwurzelung in der frühen Kindheit? Möglicherweise ist das zu viel Spekulation. Andererseits: Die Vertreibung aus Niederschlesien ist fester Bestandteil seiner Biographie – das interessiert ihn ebenso wie die Gegenwart des westpolnischen Landstrichs. Daher besuchte er kürzlich eine Lesung im Caritas-Pirckheimer-Haus, Nürnbergs katholischer Akademie. Hier stellte Karolina Kuszyk ihr Buch »In den Häusern der Anderen« vor. Die polnischstämmige Autorin aus Niederschlesien führte zahlreiche Interviews mit den Nachkommen jener Polen, die 1945 in die Wohnungen und Häuser der vertriebenen Deutschen eingezogen sind.

Raub, Einbruch und Diebstahl waren an der Tagesordnung

Es war eine rechtlose Zeit: Raub, Einbruch und Diebstahl waren an der Tagesordnung. Ganz Polen sei an der Plünderung beteiligt gewesen, merkt die Autorin an. Die Vertreibung war eine staatlich organisierte Aussiedlung mit dem (schließlich erreichten) Ziel eines fast vollständigen Bevölkerungsaustauschs. Man sprach zu jener Zeit von »Polens wildem Westen«. Teppiche, Räder, Kronleuchter, Tische und Stühle, Pelze, ja sogar Unterwäsche: Alles Brauchbare wurden den fliehenden Deutschen geraubt. »Überall lagen aufgeschlitztes Bettzeug und Federn herum, man hatte es auf der Suche nach versteckten Schätzen zerrissen«, so Kuszyk.

In die komplett eingerichteten Wohnungen und Häuser der Deutschen zogen Menschen ein, die selbst ihre Heimat in Ostpolen an die Rote Armee verloren hatten. Wer am dreistesten oder mutigsten war, besetzte einfach ein Haus in Schlesien, das ihm am besten gefiel. An den Haustüren hingen Zettel mit der Aufschrift »Belegt« oder »In polnischem Besitz«. Manche reservierten sich die Wohnräume, indem sie eine polnische Fahne ans Fenster hängten. Wer zurückhaltender oder ängstlicher war, wurde in die schlechteren Lagen abgedrängt oder wartete auf eine Zuweisung von Wohnraum durch die zuständige »Nationalratskommission«. Doch viele nahmen ihr Schicksal einfach selbst in die Hand.

Unbehagen nach der Übernahme

Aus Breslau wurden 1945 die Deutschen vertrieben. In der Stadt wurden Flüchtlinge angesiedelt. Hier ein historisches Bild (1890-1900) aus der Stadt.

Ziel der Politik war es, alles Deutsche aus dem Leben der »wiedergewonnenen Gebiete« – so die offizielle Sprachregelung – zu tilgen: Denkmäler wurden gestürzt, Orts- und Straßennamen umbenannt, Schriftzüge an Fassaden übermalt, Friedhöfe zerstört und die Grabsteine als Baumaterial verwendet. Doch an der Wohnungstüre war mit der »Säuberungswelle« Schluss. Die Neusiedler übernahmen den Besitz ihrer Vorgänger. Manche spürten ein vages Unbehagen und fühlten sich trotz des Komforts in den Häusern anfangs nicht zuhause. Zumal sie selbst vor Überfällen in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht sicher waren. So berichtet Kuszyk in ihrem Buch, dass neue Bewohner zusehen mussten, wie die Möbel vor ihrer Nase aus der Wohnung gestohlen wurden. Auf ihren Protest hin bekamen sie von den Dieben zu hören: »Mach kein Geschrei, das ist eh nicht deines, sondern von den Deutschen.«

Etliche Neusiedler hatten beim Einzug zwiespältige Gefühle: Einerseits lebten sie jetzt in einem nicht gekannten Reichtum, andererseits wollten sie nichts mit ihrem Feind – den Deutschen – zu tun haben. Daher wurden in vielen Haushalten Einrichtungsgegenstände weggeworfen, weil sie an frühere Eigentümer erinnerten. Mit einer Ausnahme: Heiligenbilder und Marienstatuen haben die katholischen Polinnen und Polen immer behalten.

Es kam zu skurrilen Szenen, die sogar in die Literatur Eingang gefunden haben: Da sucht eine polnische Neusiedlerin eine Katze gegen die Mäuseplage in ihrem Haus. Auf dem Markt fragt sie einen Händler skeptisch, ob die Katze »poniemiecki«, also »ehemals deutsch« sei. Das will sie nämlich keinesfalls. Der Händler widerspricht energisch, es sei ganz sicher eine Katze aus Zentralpolen. Ob dies beim Mäuse fangen eine Rolle spielt? Sicher nicht, doch »poniemiecki« wollte die Allgemeinheit eben nicht – das Wort gibt es übrigens erst seit der Nachkriegszeit in der polnischen Sprache.

Allerdings hat »poniemiecki« ein starkes Gewicht: Immerhin ein Drittel der Polen lebt in ehemals deutschen Häusern, merkt Kuszyk an. In ihren Interviews begegnete sie Gesprächspartnern, die Bedenken über die Zustände im damaligen »Wilden Westen Polens« äußerten. Aber sie hörte genauso von Menschen, dass sie Raub und Vertreibung der Deutschen wegen erlittenen Unrechts und Leid im Weltkrieg für gerechtfertigt hielten.

Skrupellos oder nachdenklich

Karolina Kuszyk hat für ihr Buch Nachkommen Vertriebener interviewt.

Mehrfach thematisiert die Buchautorin die Frage, was es für die Psyche bedeutet, wenn man ein neues Leben auf den Hinterlassenschaften eines verfeindeten Volkes aufbaut. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Die einen spürten keinerlei Skrupel, andere wiederum waren sehr nachdenklich. Jedenfalls halfen eingekochtes Obst und Gemüse, das in deutschen Vorratskammern zurückgeblieben war, den neuen Bewohnern Westpolens, die lebensmittelarme Nachkriegszeit zu überstehen. Waagen, Kaffeemühlen oder Kleiderbügel mit deutscher Aufschrift und viele weitere Alltagsgegenstände sind in den Haushalten bis heute in Gebrauch.

Die ersten beiden Generationen von polnischen Umsiedlern, so Kuszyk, wurden im Geist der Feindschaft oder zumindest des Misstrauens gegenüber den Deutschen erzogen. Erst nach Jahrzehnten lockerte sich das Gefühl der strikten Ablehnung wie auch der Angst, die früheren Besitzer könnten zurückkehren und ihr Eigentum zurückfordern. Mit dem Warschauer Vertrag von 1970, der die Oder-Neiße-Linie als westliche Staatsgrenze Polens anerkannte, wurde ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Deutschen und Polen aufgeschlagen.

 Nun herrschte in Westpolen nicht mehr automatisch Alarmstimmung, wenn ein Deutscher mit Fotoapparat auftauchte und das Haus seiner Eltern oder Großeltern ablichten wollte. »Die Besuche verliefen überwiegend freundlich«, merkt die Buchautorin an, »die Gäste aus Deutschland wurden herzlich aufgenommen und zum Kaffee eingeladen.« Allerdings war nicht alles Friede, Freude, Völkerverständigung: Manchmal wurden deutsche Touristen von Haus und Hof ihrer Vorfahren verjagt, berichtet die gebürtige Niederschlesierin. Es komme eben immer darauf an, was die polnischen Familien im Zweiten Weltkrieg erlebt hatten.

Die Spurensuche ist übrigens kein deutsches Phänomen: Manche Bewohner Westpolens verspüren ebenfalls Sehnsucht nach ihrem verlorenen Zuhause: Es gibt auch »Heimattourismus« ins ehemalige Ostpolen – heute sind es Gebiete der Ukraine, von Belarus und Litauen.

Text: Hartmut Voigt
Fotos: Michael Matejka, Hartmut Voigt, wikipedia

Information

Karolina Kuszyks Buch »In den Häusern der anderen. Spuren ­deutscher Vergangenheit in Westpolen« ist mit der ISBN 978-3-96289-146-6 im Ch. Links Verlag erschienen und kostet im Buchhandel 25 Euro.

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