Im Alter wird der Lebensrückblick wichtig. Viele Menschen wollen eine Bilanz ziehen, manche tun sich schwer damit. Mit 82 Jahren stehe ich selbst vor dieser Aufgabe. Es wächst die Sehnsucht, das eigene Leben als Ganzes zu sehen und einen »roten Faden« zu entdecken. Es tauchen Fragen auf wie »Wie versöhnt man sich mit dem eigenen Leben, welchen Sinn hat es?«, »Welche Kämpfe musste man ausfechten, welche Wunden wurden geschlagen?«, »Kann ich vergeben?«
Ich muss zugeben, mir fallen die Antworten nicht leicht. Verletzungen kommen hoch, Verdrängtes meldet sich wieder, Vergleiche zwischen früher und heute verursachen eine gewisse Unsicherheit. Neben Hochgefühlen überfallen mich Wut und Zorn – wegen verfehlter Gelegenheiten, Kummer in der Familie, Enttäuschungen mit Menschen. Als Kriegskind musste ich mit dem Schweigen von Eltern und Großeltern fertig werden. Gott sei Dank war die Sprache für mich die Rettung. Damit erlebte ich als Journalist und Amateurschauspieler glückliche Zeiten.
In Todesanzeigen lese ich oft: Der/Die Verstorbene hatte ein erfülltes Leben. Was bedeutet ein erfülltes Leben? Kann es auch erfüllt werden, wenn es von Unglück und Krankheit überschattet war? Natürlich ist klar: Es existiert keine allgemeine Regel für Zufriedenheit und Glück. Das ganze Leben, der volle Klang, ist bei jedem Menschen anders. Es ist die individuelle Lebensgeschichte, die eine Person ausmacht – ob 40 Jahre lang als Beamter im selben Büro, als Mitarbeiterin in der Altenpflege, als Handwerker auf dem Bau oder als gefeierte Künstlerin.
Erfüllung, die im bloßen Dasein liegt
Die Frage, ob ein Leben dramatisch oder undramatisch abgelaufen ist, beurteilt der Hamburger Kommunikationsforscher Professor Dr. Friedemann Schulz von Thun mit einer beruhigenden Erkenntnis: »Es gibt Biografien, die sind so berauschend und spektakulär, dass einem der Atem stockt, während es im Leben vieler anderer ruhiger zugeht. Deshalb kann man sagen, es gibt auch eine Erfüllung, die im bloßen Dasein liegt.«
Soll man überhaupt zurückschauen? Niemand müsse das wagen, meint Schulz von Thun. Für manche Menschen, die Schlimmes erlebt haben, sei eine gut funktionierende Verdrängung absolut hilfreich. Es sei denn, die Vergangenheit meldet sich durch die Hintertür im Leben und spuckt einem in die Suppe. Dann sollte man sich ihr doch noch mal widmen. Denn der Wunsch, sich über sein Leben Rechenschaft abzulegen, ist typisch menschlich. Dazu gehört auch der Versuch, den eigenen Stammbaum zu erforschen. Der Hamburger Experte: »Offenbar ist es ein menschliches Bedürfnis, eine erklärte Identität zu haben. Im Rentenalter hat man Zeit, sich dem zu widmen. Es ist eine interessante Frage, »Was waren das für Leute, deren DNA in mir drinsteckt?«
Wer Rückschau hält, kommt jedoch an der Frage »Kann ich mich versöhnen?« nicht vorbei. Aber wie sieht es damit aus? Wir werden in Familien hineingeboren, jede Familie hat ihre positiven, aber auch ihre dunklen Seiten, ihre Geheimnisse, ihre Verletzungen. Gerontologin Nele Haberkern vom Zentrum für Altersmedizin (ZfA) in Nürnberg stellt fest: »Man hat ein Anrecht auf Wut, es ist eine ganz normale Reaktion, zornig zu werden und auf Distanz zu gehen, wenn jemand uns Unrecht getan hat.« Doch auf Dauer merke man, dass das nicht immer weiter hilft. Die belastende Geschichte begleitet uns, der Zorn nagt an uns, das Geschehene prägt jede weitere Begegnung mit der betreffenden Person. Haberkern: »So kann nach und nach der Wunsch entstehen, dem anderen zu verzeihen. Wann die Zeit dafür gekommen ist, hängt ganz davon ab, mit wem wir es zu tun haben und was genau geschehen ist.«
Bei Johann Sebastian Bach klappte es noch
Mitunter ist es schwer, sich in puncto Vergebung der eigenen Familie zu nähern – dafür gibt es viele Beispiele. Eine ehemalige Altenpflegerin berichtet, während eine Mutter im Sterben lag, saß ihre Tochter im Nebenzimmer, es gab zwischen ihnen keine Aussprache mehr. Ein solches Verhalten ist nicht nur unter Normalsterblichen anzutreffen, sondern auch unter prominenten Menschen. So konnte US-Präsident Abraham Lincoln (1809-1865) keinen Kontakt zu seinem sterbenden Vater aufnehmen, den er 20 Jahre lang nicht gesehen hatte und der ihn offenbar in seiner Kindheit misshandelt hatte. Der Präsident soll dazu gesagt haben: »Wenn wir uns jetzt begegnen würden, wäre das eher schmerzlich als angenehm.« In der berühmten Bach-Familie klappte es noch im letzten Moment: Vater Johann Sebastian Bach versöhnte sich gerade noch mit seinem, von ihm unterschätzten Sohn Carl Philipp Emanuel, bevor sich dieser für immer von ihm trennen wollte.
Nach Ansicht von Monika Renz, Therapeutin am Kantonsspital in St. Gallen, beschäftigen sich nur 15 bis 30 Prozent der Menschen während ihres Lebens mit dem Thema »Versöhnung«, beim Sterben hingegen ist es fast jeder. Mit dem Aussöhnen im Leben sollte man nicht zu lange warten, empfiehlt Professor Dr. Markus Gosch, Facharzt für Innere Medizin/Geriatrie am Klinikum Nürnberg, Campus Nord. Seiner Meinung nach habe sich das Verhalten gegenüber früher verändert. Dies kann auch Karl Rester, ehrenamtlicher Mitarbeiter der ökumenischen Seelsorge im Klinikum Süd, unterstreichen: »Heute beschäftigen sich mehr Patienten und Patientinnen mit dem Thema Versöhnung als noch vor 30 oder 40 Jahren.« Der 77-Jährige macht pro Woche jeweils drei Stunden Besuche am Krankenbett, steht in dieser Zeit aber auch für Einzelgespräche zur Verfügung. Ist er schon mal abgelehnt worden? Das sei die Ausnahme, berichtet er. Menschen, die von Gott und der Welt enttäuscht sind, stehe er als Vermittler und Zuhörer zur Verfügung. Er habe die Erfahrung gemacht, so der ehrenamtliche Mitarbeiter, »dass diejenigen, die ihr Leben voll gelebt haben, sich leichter versöhnen als andere«. Er sei immer wieder erstaunt über Menschen, die ein schweres Leiden und den Tod erwarten, dennoch Zuversicht ausstrahlen und sagen, es ginge ihnen gut. Rester: »Es ist nie zu spät, loszulassen, zu vergeben. Wir sollten uns daran erinnern, dass wir ein Leben lang lernen und nicht perfekt sein können.«
Ohne miteinander zu reden, geht es nicht
»Es ist nun mal so, dass unser Vergangenheits-Erleben unsere Gegenwart bestimmt«, sagt der Nürnberger Diplom-Psychologe Dr. Arthur Jarolim. Um Enttäuschungen nicht zu wiederholen, können Überzeugungen entstehen wie »So was passiert mir nie wieder«, »Mit dem rede ich nie wieder« oder »Jetzt müssen die den ersten Schritt machen«. Doch Konflikte zwischen Menschen könnten nur mit Kommunikation, also dem Austausch von Meinungen und Ansichten, bearbeitet werden. Der Psychologe weiter: »Damit man wieder zusammenfindet, muss die erste Voraussetzung sein, dass ich das selbst will und meine Einstellung zum anderen oder zur Situation ändere beziehungsweise mich öffne, damit was Neues entsteht.« Zudem sollte man erkennen, dass Schuldsuche zu nichts führen wird. Jarolim hält den Begriff des »Bewältigen« oder auch »Versöhnen« geeigneter als »Vergeben«. Dazu der Psychotherapeut: »Ich glaube, wir müssen erst mal lernen, den anderen ausreden zu lassen, um uns selbst besser zu verstehen.«
Vielleicht reicht es auch mal mit dem Zurückschauen. Man sollte nicht nur die Stoppelfelder der Vergangenheit betrachten, sondern auch die vollen Scheunen der Erinnerung. Und ganz wichtig: »Das Leben findet in der Gegenwart statt – besonders, wenn man im Alter ist. Dann gilt es, täglich neu Entdecktes einzuüben, besonders das Reden zu lernen«, so Jarolim. Ein Aufruf zu mehr Achtsamkeit und für den gelebten Moment im Hier und Jetzt.
Text: Horst Otto Mayer
Abb: Museum der bildenden Künste Leipzig
Literatur
- Friedemann Schulz von Thun: »Erfülltes Leben«, Goldmann Verlag, 13 Euro
- Monica McGoldrick: »Wieder heimkommen«, Carl-Auer Verlag 39,95 Euro