Als wir uns zum Gespräch treffen, hat Delev Hapke ein Spielzeug mitgebracht. Es ist eine Leiter, auf der man ein hölzernes Männchen nach oben kraxeln lassen kann. Auf der höchsten Sprosse verharrt es einen Augenblick, dann plumpst es zu Boden. »Erdenschwer«, sagt Detlev Hapke. »Nur einen Moment ist er dem Himmel nah. Dann geht es wieder abwärts.«
Da wir uns verabredet haben, um über Spiritualität zu diskutieren und darüber, ob und wie sie sich im Alter verändert, begreife ich den Spielvorgang als Gleichnis. Spiritualität ist eine kurze Erfahrung von – ja, wovon eigentlich? Das Wort Sinn wird später eine Rolle spielen. Das mit dem Gleichnis liegt auch insofern nahe, als Hapke evangelischer Theologe ist. Da hat er gelernt, mit den Gleichnissen des Neuen Testaments umzugehen.
Geballte Lebens- und Berufserfahrung
Er war Gemeindepfarrer in Karlstadt am Main, Mitarbeiter einer Kirche in Afrika, Polizeiseelsorger in Nürnberg, Problemberater bei der Institution »Offene Tür« in St. Jakob. Gerade ist er 80 Jahre alt geworden. Aber er hält weiter Gottesdienste – etwa in St. Lorenz, oder bei der englischsprachigen Gemeinde. Er beherrscht diese Sprache perfekt, denn er ist mit einer Amerikanerin verheiratet. Geballte Lebens- und Berufserfahrung. Und wie hält er es mit der Spiritualität?
Da müssen wir erst einmal definieren und abgrenzen. Hat Spiritualität etwas mit Religion zu tun? »Religion«, sagt Hapke, »ist etwas Strukturelles, ein geordnetes System. Sie wiederholt bestimmte Geschichten und Rituale. Deswegen empfinden manche Menschen das Christentum heute als langweilig und suchen Erfahrungen in Asien oder Amerika. Sie suchen auch in anderen Religionen. Aber Spiritualität hat nichts mit einer bestimmten Religion zu tun. Sie ist etwas geistig Bewegendes. Das kann ein Text sein, Musik, Natur. Etwas, das bei einem Spaziergang um die Ecke kommt. Etwas, das einem plötzlich einleuchtet, kann spirituell sein.«
Der Moment, in dem man begreift
Detlev Hapke spricht nicht von Erleuchtung, also von einer Veränderung der Weltanschauung. Das würde ja vom Männchen abweichen, das wieder auf den Boden fällt. Spiritualität ist für ihn eher etwas Punktuelles, Spontanes, eine Art Aha-Effekt. Ein Moment, in dem man etwas begreift – und der gar keinen Bestand haben muss. »Das macht mich sprachlos und überwältigt mich.« Man kann so ein Erleben auch mit bestimmten Techniken herbeiführen. Hapke verweist auf eine ökumenische Taizé-Andacht mit ihren meditativen Gesängen oder den Tanz der Derwische. Die Quintessenz einer solchen Erfahrung: »In diesem Moment macht die Welt einen Sinn.«
Spiritualität kann also etwas sein, was dem Menschen begegnet oder wonach er sucht. Sinnsuche, das ist etwas, was viele Menschen umtreibt und mit ihr die Frage: Wozu sind wir hier? Religionen geben tradierte Antworten darauf. Spiritualität dagegen ist eine individuelle Antwort. Und die verändert sich selbstverständlich im Lauf des Lebens, weil sich auch die Fragen an das Leben verändern. Detlev Hapke meint: »Ein Mensch in der Pubertät fragt ganz anders nach dem Sinn als ein alter Mensch. Was mich gestern aufgebracht hat, lässt mich heute kalt. Alt werden heißt sich verändern. Deswegen werden sich auch meine spirituellen Erfahrungen unweigerlich verändern.«
Das Thema Alter in vielen Fällen angesagt
Hapke berichtet von seinen Gesprächen in der »Offenen Tür« der Nürnberger Kirche St. Jakob. Das ist ein Angebot der Cityseelsorge. Montags bis donnerstags stehen Theologen, Soziologen und Psychologen zwischen 15 und 18 Uhr für alle zur Verfügung, die ein Problem zur Sprache bringen wollen – spontan oder nach Voranmeldung. Und da ist das Thema Alter in vielen Fällen angesagt. »Die Menschen machen sich jede Art von Sorgen über ihr Altwerden. Vor allem, weil das ein Vorgang ist, über den man in der Gesellschaft nur ungern spricht. Sie fragen sich: Habe ich vorgesorgt – für mich selbst, für die Kinder und Enkel? Sie sorgen sich um Krankheit oder Hilflosigkeit. Sie tragen Lasten aus Fehlern mit sich herum, die sie im Leben gemacht haben – oder von denen sie glauben, dass sie sie gemacht hätten. Da werden große Schuldgefühle geäußert. Jede Art von spiritueller Erfahrung könnte da zur Erleichterung führen.«
Es sei ja nicht so, wie der bekannte Spruch »Mit dem Alter kommt der Psalter« behaupte. Keineswegs führe der Fortschritt an Lebensjahren automatisch zu intensiverer Frömmigkeit. Das ist jedenfalls Hapkes Erfahrung. Auf jeden Fall werde die Sinnfrage häufig dringlicher. »Ich gehe auf den Tod zu. Und in dessen Angesicht – es ist ja das Angesicht der Zerstörung – wird es schwieriger, einen Sinn im Dasein zu finden. Man kann sich nicht mehr dieselben Lebensziele stecken wie jüngere Menschen. Alles wird existenzieller. Auch weil meine Lebensgeschichte eben sehr lang geworden ist und vielleicht noch das eine oder andere unvollendete Kapitel enthält. Das heißt, ich kenne auch den Mist, den ich gemacht habe. Und ich muss damit umgehen.«
Die Grenzen von Rationalität werden durchbrochen
Selbstverständlich kann der Theologe Detlev Hapke auf den Kanon religiöser Antworten auf Existenzfragen zurückgreifen. Aber das sind eben nicht die individuellen Antworten von Erlebnissen, die als spirituell empfunden werden, weil sie Grenzen von Rationalität und Materialität zu durchbrechen (transzendieren) scheinen. Für sie gibt es keinen Kanon. Und die individuellen Antworten können im Alter besonders mächtig und ergreifend sein, weil sie mit sehr viel Erinnerung aufgeladen sind.
Dabei hat Hapke eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. »Es kann gerade im christlichen Zusammenhang zu einer Differenz zwischen männlicher und weiblicher Spiritualität kommen. Für Frauen wird der Gott der Bibel dann zum Stolperstein, zum Stein des Anstoßes. Denn seine Darstellung ist ja so absolut patriarchalisch maskulin. Dagegen kann sich weibliche Spiritualität wehren. Jede spirituelle Erfahrung hat mit dem Gefühl der momentanen Geborgenheit zu tun. Und es kommt vor, dass die überhaupt nicht mit Vorstellungen wie ‚Abrahams Schoß‘ korrespondiert.«
Das ist ein unerwarteter Denkanstoß: Spiritualität und Geschlechterdifferenz. Darüber gilt es nachzudenken. Ich kann nur fühlen, wie die männlich geschnitzte Holzfigur, die Detlev Hapke mitgebracht hat. Den nächsten Augenblick intensiv erleben, wenn ich mal wieder auf der obersten Leiterstufe bin. Bevor ich erneut auf meinen altersreifen Po fallen muss.
Text: Herbert Heinzelmann
Fotos: Claus Felix