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Zeugnisse gesucht aus Nürnberger Alltagsleben

Antonia Landois arbeitet im Nürnberger Stadtarchiv. Dieses betreut auch Nachlässe von Privatpersonen. Manchmal nehmen die Mitarbeiter Kontakt mit den Hinterbliebenen auf, um historisch Wichtiges zu sichern.

Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod übrig? Die Erinnerungen, die Angehörige und Freunde haben, manchmal eine Eigentumswohnung, Schmuck, Möbel oder ein gut gefülltes Bankkonto für die Erben. 

Das Nürnberger Stadtarchiv in der Norishalle ist jedoch an etwas anderem interessiert. Tagebücher, private Korrespondenzen, Terminkalender, Fotografien, Manuskripte: »Das hat zwar keinen finanziellen Wert, aber es ist nicht wertlos. Ganz im Gegenteil: Es gibt uns Einblicke in private Lebenswelten der Nürnberger, es ergänzt unsere Kenntnisse der lokalen Mentalitäts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte«, sagt Antonia Landois, Abteilungsleiterin im Stadtarchiv.

Sie betreut derzeit 222 Nachlässe, die in den vergangenen fünfzig Jahren dem Stadtarchiv überlassen wurden. Die Behörde kümmert sich aktiv um schriftliche Hinterlassenschaften ihrer Bürger: Sie wertet Todesanzeigen in der Zeitung aus und wendet sich mit gewissem zeitlichem Abstand an die Hinterbliebenen. Die Reaktionen der Betroffenen sind unterschiedlich. Manche reagieren gar nicht auf den Brief des Archivs, andere sind dagegen erleichtert oder sogar begeistert, dass man sich für den schriftlichen Nachlass der Verstorbenen interessiert.

Dabei geht es keineswegs nur um Prominente wie den früheren Nürnberger Oberbürgermeister Peter Schönlein, dessen politisches Wirken mit vielen Schriftstücken in säurefreien Boxen des Stadtarchivs dokumentiert ist, oder um den bundesweit bekannten, einstigen Kulturreferenten Hermann Glaser, sondern auch um ganz normale Menschen.

Wie etwa bei dem Nachlass der Familien Rösner, Bleistein und Jakob, aus dem man vieles zum kommunistischen Widerstand während des Nationalsozialismus‘ in Nürnberg erfährt – ein Thema, über das bislang nur wenig bekannt ist. Ein anderes Beispiel ist das Konvolut E10/204 des Stadtarchivs, in dem das Leben der Schweinauer Arbeiterfamilie Thaler/Körner vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre festgehalten ist. Ein weiterer interessanter Nachlass stammt von Konrad Birkmann (1918-1997): Der gleichnamige Sohn erlebte nach dem Tod des Vaters eine Überraschung, als er zahlreiche Kartons mit Unterlagen einmal genauer durchgesehen hatte. Er fand unter anderem Tagebücher ab dem Jahr 1938 und umfangreiche Briefwechsel seiner Eltern mit Freunden seit den Anfängen der Bundesrepublik, die das damalige Lebensgefühl wiedergeben.

Bei minus 30 Grad in Einzelhaft

»Ich war total erstaunt, wie akribisch genau mein Vater alles festgehalten hat. Ich wusste gar nicht, dass er Tagebücher geschrieben hat«, staunt Konrad Brinkmann junior. Am meisten fasziniert hat ihn das, was er »Überleben durch Bildung« nennt: Der Vater war ab 1939 als Soldat im Weltkrieg, von 1944 bis 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. »Bei minus 30 Grad ist er in Einzelhaft viele Stunden im Kreis gelaufen, um nicht zu erfrieren«, berichtet Birkmann. Dabei habe sein Vater, der nur sechs Jahre die Schule besuchen konnte, umfangreiche Reflexionen zu Philosophie, Geschichte, Religion und Literatur memoriert. Das Wissen hatte er sich zuvor aus Gesprächen mit anderen Kriegsteilnehmern angeeignet und in zahllosen Aufzeichnungen festgehalten.

Auch seine Feldpostbriefe sind für das Stadtarchiv interessant. Neben den Schriftstücken von vier weiteren Soldaten geben sie einen genauen Eindruck wieder, wie die Männer damals in der Extremsituation des Krieges lebten. Natürlich müsse man sich bewusst sein, dass die Feldpost unter dem Eindruck der Zensur verfasst wurde, erklärt Archivarin Landois, nicht alles konnte offen nach Hause geschrieben werden.

Was der Historikerin im Archiv fehlt, sind Nachlässe von Frauen: Die Geschichte ist noch überwiegend männlich dominiert. Doch das dürfte sich langsam ändern, Frauen haben mittlerweile eine deutlich aktivere gesellschaftliche Rolle als etwa zur Zeit des Wiederaufbaus.

Die Erben sind oft ratlos

Seit längerem gibt es ein Überangebot an schriftlichen Nachlässen, der Markt wird geradezu überschwemmt. Es sterben viele Sammler, die Erben sind oft ratlos, was sie mit den Unterlagen anfangen sollen. Bevor sie auf dem Müll landen, greift das Stadtarchiv gerne zu. Doch personell sind dem »Gedächtnis Nürnbergs«, wie die Behörde oft genannt wird, enge Grenzen gesetzt. Für die Akquise reichen die Kapazitäten, das Aufbereiten des Materials dauert manchmal länger.

Die Stadt kauft nichts an; die Nachlässe sind Schenkungen oder Dauerleihgaben. Wichtig ist, dass das Material für die Forschung bereitgestellt wird, damit Gymnasiasten, Studenten und Wissenschaftler es für ihre Arbeiten nutzen können.

Nicht alle Unterlagen sind aus Sicht des Archivs brauchbar: Es verzichtet auf allzu private Liebesbriefe, Steuerbescheide, Krankenakten oder reine Postkarten- und Bücher-Sammlungen. Die Archivmitarbeiter unterstützen die Erben bei der Auswahl der Flachware, wie die schriftlichen Unterlagen in der Fachsprache heißen.

Schriftstücke, Briefe und Fotos ergänzen das »Gedächtnis Nürnbergs«.

“In 99 Prozent aller Fälle konnten wir helfen”

Pro Monat kommen etwa sieben Nachlässe in die Norishalle am Altstadtring. Mit Hilfe von Ehrenamtlichen wird das Material in Datenbanken erfasst, verschlagwortet und mit einer Signatur versehen. Digitalisiert wird nur wenig, es ist eine Kostenfrage. Die Benutzer müssen die Quellen also weiterhin im Lesesaal studieren. 

Um eine ganz andere Art von Nachlässen geht es dagegen dem Nürnberger Auktionator Herbert Weidler und seinem Team. Bei der Verwertung wollen seine Kunden den bestmöglichen Preis für wertvolle Uhren, antike Möbel, edles Porzellan, repräsentativen Schmuck oder außergewöhnliche Ölgemälde erzielen. Schriftliche Nachlässe sind daher genauso uninteressant wie gewöhnliches Mobiliar.

Auch Weidler merkt, dass immer mehr Nachlässe auf den Markt drücken. Rund 5000 Anfragen bekommt er pro Jahr. Aber die Erlöse sinken trotz des üppigen Angebots nicht, weil Weidler seine Kundschaft weltweit beliefert. Die Pakete gehen nicht nur in europäische Länder, sondern auch nach Asien oder Amerika.

Die Patina kann dranbleiben

Erst kürzlich fand eine grüne Designer-Tasche der Edelmarke Hermès eine neue Trägerin in Australien – für 11.000 Euro. Bei der Auflösung eines fränkischen Schlosses wechselte eine Meißener Teekanne aus dem Jahr 1720 für 22.000 Euro den Besitzer. Hochwertige Produkte finden immer ihre Liebhaber, weiß Weidler aus Erfahrung. Seit 1980 betreibt der öffentlich bestellte und vereidigte Auktionator sein Geschäft am Nürnberger Albrecht-Dürer-Platz.

Seit der Wirtschaftswunder-Zeit hat sich so mancher im Lauf seines Lebens eine Sammlung aufgebaut. Davon trennen sich die Senioren mitunter beim Umzug ins Altenheim – in Einzelfällen, um die Kosten für die Betreuung aufzubringen. Oder die Erben machen nach dem Todesfall die Wertgegenstände zu Geld. Die wenigsten Verkäufer sind von Geldnot getrieben, meint Weidler, der gemeinsam mit seinen Töchtern Kathrin und Kerstin die Geschäfte führt.

Einen wichtigen Tipp hat Expertin Kerstin Weidler für jene, die über einen Verkauf von Antiquitäten nachdenken: »Beseitigen Sie auf keinen Fall die Patina, belassen Sie immer den Originalzustand.« Also bitte nicht den kleinen gotischen Flügelaltar oder die historische Holzfigur noch rasch kräftig »reinigen«.

Kerstin Weidler erinnert sich an eine »Moonwatch« der Schweizer Luxusuhren-Manufaktur Omega. Ein derartiges Modell hatte Astronaut Buzz Aldrin bei der Mondlandung von Apollo 11 im Jahr 1969 dabei, daher der Name. Ein Kunde wollte nun sein Exemplar, das in Fachkreisen mit 16.000 Euro gehandelt wurde, über das Nürnberger Auktionshaus verkaufen. Doch er ließ es zuvor für 3000 Euro fachmännisch überholen – ein Fehler, wie Kerstin Weidler betont: »Die wertvolle Uhr war leider überrestauriert und ging nicht weg.« Sammler wollten eben die Uhr im Urzustand.

Im Gegensatz zu den Nachlässen, die das Nürnberger Stadtarchiv in seinen Depots aufbewahrt, wird das Ergebnis einer lebenslangen Sammelwut (oder besser Sammellust) bei den Auktionen über die ganze Welt verstreut. Denn etwa 90 Prozent der Ware läuft bei dem Nürnberger Auktionshaus über das Internet. 

TextHartmut Voigt
Fotos: Michael Matejka

Information

Haben Sie schriftliche Unterlagen, die Sie abgeben möchten? Hierauf legt das Nürnberger Stadtarchiv Wert:

  • Die Unterlagen sind in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, gesellschaftlicher, künstlerischer, topografischer oder individueller Hinsicht stadtgeschichtlich aufschlussreich.
  • Sie sind verfügungsberechtigt über die Unterlagen. Weitere betroffene Personen kennen Ihr Vorhaben.
  • Es handelt sich um schriftliche Dokumente (Urkunden, Briefe, Karten und Pläne, Zeichnungen, Manuskripte) oder audiovisuelles Material (Fotos, Postkarten, Plakate, Filme).
  • Es sind (überwiegend) Originale.
  • Die Dokumente sind vorsortiert und es gibt eine Liste über das, was Sie abgeben möchten.
  • Die Unterlagen, vor allem Fotos, sind beschriftet (nach Möglichkeit Personen, Orte, Jahr).
  • Die Dokumente sind trocken, frei von Schimmelbefall, nicht zu stark verschmutzt.
  • Die Unterlagen sind transportabel und vorläufig verpackt. 

Kontakt per E-Mail: antonia.landois@stadt.nuernberg.de

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