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Wie lebt es sich in Mehrgenerationenhäusern?

Wie wollen wir leben? Das ist die zentrale Frage, die sich Erwachsene aller Altersgruppen stellen – und in verschiedenen Lebensphasen immer wieder neu. Manchen geht es dabei auch um Gemeinschaft; sie möchten nicht isoliert als Single, Paar oder in der Kleinfamilie leben. Die Ideen für die Umsetzung eines solchen Vorhabens sind höchst unterschiedlich, mitunter sogar widersprüchlich. Mehrgenerationenhäuser scheinen da eine attraktive Wohnform zu sein, sie versprechen Privatheit und Gemeinschaft gleichermaßen. Ein großes Herz, ein offener Geist und eine gehörige Portion Zähigkeit sind für diese Wohnform allerdings unabdingbar.

Fürther Kreuzfahrtschiff« nennen Einheimische und Besucher gern das imposante Gebäude in der Langen Straße in Fürth-Ost. Auf dem Gelände der ehemalgen Spiegelfabrik entstand ein Mehrgenerationenhaus, das sich auch optisch sehen lassen kann. Von der riesigen Dachterrasse fällt der Blick direkt auf den Pegnitz-Grund, etwas ferner reckt sich der Kirchturm von Poppenreuth in den Himmel. Rundherum Kofferfabrik, Stadtpark und Jakobinenstraße. Der Name »Spiegelfabrik« ist geblieben. Er erinnert an die frühere Nutzung des Geländes, als man hier Glas schliff und Spiegel verkaufte.

Auf einem Galeriegang der Spiegelfabrik in Fürth: ­Bewohnerin Corinna Mielke (im Vordergrund) mit der ehrenamtlichen Geschäftsführerin des Projekts, Brigitte Neumann.

Die Alte Schmiede, ein Original-Backsteinbau mit Keramikofen, blieb erhalten. Ihn haben die Mitglieder der Baugemeinschaft in Eigenarbeit auf Vordermann gebracht. Dabei hat sich mancher auf neues Terrain begeben. Das Abdichten des unteren Mauerwerks zum Beispiel habe ein Internist übernommen, erzählt Brigitte Neumann, bei der viele Fäden zusammenlaufen.  Neumann ist ehrenamtliche Geschäftsführerin und Herz und Seele des modernen Wohnprojekts. »Wir sind mit der Spiegelfabrik bundesweit die Einzigen mit dem Hybrid-Modell, vom Bundesfamilienministerium ausgezeichnet als Modellprojekt«, sagt sie. Will heißen: Von den insgesamt 58 Wohneinheiten sind die meisten Eigentumswohnungen, 17 aber Genossenschaftswohnungen. Im Rahmen des geförderten Wohnungsbaus sind einige Plätze an Wohngeldberechtigte vergeben, darunter Alleinerziehende und Flüchtlinge mit Aufenthaltstitel. Auch WGs haben sich hier niedergelassen. Jetzt ist das Haus komplett.

Wenn man mit den Bewohnern spricht, gewinnt man den Eindruck eines sehr guten Miteinanders der Generationen. Ein Drittel ist unter dreißig, ein Drittel zwischen 30 und 50 und ein Drittel 50 plus. Freilich gab es anfangs Probleme und Auseinandersetzungen, etwa über die riesigen Fenster, denn manche hätten Sprossenfenster bevorzugt. Und dann waren da finanzielle Sorgen, weil sich der Fabrikabriss und damit der geplante Einzug immer wieder verzögerten. Erst musste der Bau für fledermausfrei erklärt werden, danach kostete eine brütende Spatzenfamilie allein geschlagene sechs Monate. Ein Industriekletterer erspähte im Nest in einer Mauerritze ein »nackertes« Spatzenbaby, also hieß es warten, bis die Brutsaison vorüber war.

Eine Krisensitzung jagte die andere, fällige Zahlungen mussten gestundet werden, bisweilen spendierten auch großzügige Nachbarn einen Überbrückungskredit. Manche Beziehung wäre zudem am Nervenkrieg fast zerbrochen. Neumann weiß: »Viele von uns haben sehr schlecht geschlafen. Aber die Gemeinschaft hat denen in Nöten den Rücken gestärkt. Was sie sein wollen, drückt eine nicht mehr ganz junge Bewohnerin so aus: »Eine selbst gewählte Großfamilie oder ein Dorf mit einem bunten Völkchen, bei dem es Freaks gibt, Macher, Normalos und Fundis. Ich begreife das Projekt auch als Toleranzübung für mich selbst.«

Noch in den Startlöchern steht das Erlanger Projekt »RaumTeiler« – und das, obwohl sich die Initiatoren schon 2014 zusammengetan haben. 2020 hat die Stadt Erlangen der Gruppe die Option auf einem rund 2800 Quadratmeter großen Baugrund in Büchenbach-West zugesagt. Der Kauf soll in diesem Sommer über die Bühne gehen, damit das nachhaltige Holzhaus gebaut und im Mai 2023 bezogen werden kann. Von den 25 geplanten Eigentumswohnungen sind derzeit 19 vergeben, berichtet Geschäftsführerin Annalisa Lukas. Zwar mangele es nicht an Nachfrage, doch nun komme es auf den richtigen Altersmix an, damit es auch ein Mehrgenerationen-Projekt wird. Gesucht werden vor allem junge Mitbewohner zwischen 25 und 35 Jahren sowie Menschen über 73. Am Kauf komme man nicht vorbei, da das Genossenschaftsmodell für diese übersichtliche Gruppe zu teuer sei.

Dieses Problem hatte die Genossenschaft »Anders Wohnen« in der Karl-Bröger-Straße in Nürnberg nicht, die Anlage ist groß genug. Gegenüber den Neulingen in Fürth ist die Gemeinschaft den Kinderschuhen entwachsen. 2009 zogen die ersten Bewohner in das geschwungene Gebäude ein, mit dem Anspruch, sich in einem sozialen Miteinander gegenseitig zu unterstützen. Wie die Fürther starteten sie mit einem Alleinstellungsmerkmal: »Das Konzept, Senioren und Alleinerziehenden eine neue Heimat zu geben, war damals einzigartig in Deutschland«, erklärt Geschäftsführerin Mandy Fuhrmann. Das Miteinander zwischen Älteren und Alleinerziehenden erwies sich indes als schwierig, das Projekt hatte manche Zerreißprobe zu bestehen. Mittlerweile ist aber Ruhe eingekehrt.

Einer der Gründungsväter ist Fred Jantschke, heute 81 Jahre alt. Er und seine Frau hatten damals vor allem genug von der Einsamkeit in ihrer Eigentumswohnung und fanden Gleichgesinnte. Als vor 15 Jahren die Vorbildsuche begann, gefiel der Gründergruppe das Modell der Münchner Genossenschaft Wogeno am besten und als Standort das unbebaute Grundstück gegenüber dem Karl-Bröger-Haus im Besitz der Stadt Nürnberg. Eine Kita gehörte zum Grundkonzept, so fand sich eine Bauherrengemeinschaft mit dem Humanistischen Verband. Das Bundesfamilienministerium förderte den Neubau mit einer halben Million Euro. Heute sind von insgesamt 44 Wohnungen zehn mit Alleinerziehenden mit Kind(ern) belegt. Bedürftige erhalten Mietzuschuss. Auch bei diesem Wohnkomplex gehört die Dachterrasse zu den Highlights. Der Blick schweift vom Opernhaus hinüber zum Hauptbahnhof, unten der verkehrsberuhigte Vorplatz mit Park und Spielplatz. Etliche Bewohner haben ihr Auto abgemeldet, es ist unnötig in dieser zentralen Lage.

Erledigt hat die Pandemie die Palette üblicher Gemeinschaftsaktivitäten, angefangen beim Suppentag über Lesekreis und Malkurse, Vorlesen und Basteln in der Kita, alles selbst organisiert von den Bewohnern. Gleichwohl geben die Nachbarn hilfsbereit aufeinander acht, reichen zum Beispiel Mahlzeiten rüber oder klopfen an, wenn sich ein Bewohner länger nicht blicken lässt.

Eine vollkommen andere Nummer als die genannten Großstadtprojekte sind die »Lindenhöfe« in Elbersberg bei Pottenstein. In der Entstehungsphase berichtete das Magazin sechs+sechzig über die Anlage, die sich heute, rund zehn Jahre später, in der Hochphase befindet. Den Grundgedanken der Genossenschaft damals erläuterte Initiator Wieland Simon so: Ältere Menschen wohnten Jahrzehnte lang in ihrem Dorf. Dann stirbt der Partner, und die Kinder kommen nur selten vorbei in das inzwischen überdimensionierte Haus. Doch der Einsamkeit ein einziges Zimmer im Altenheim zu entfliehen, ist für viele Rüstige eine deprimierende Aussicht, noch dazu verhältnismäßig teuer. Die Alternative: ein eigenes Haus im Kleinformat.

Und das haben die Lindenhöfe zu bieten: 48 barrierefreie Häuser sowie vier kleinere Apartments, als Eigentum oder zur Miete. Die Anordnung von je vier bis sechs Häusern um einen begrünten Innenhof herum eröffnet die Möglichkeit zum direkten Kontakt mit den Nachbarn und erhält gleichzeitig die Privatsphäre. Ferner gibt es ein Gemeinschaftshaus, eine Fahrbereitschaft und eine »Hausdame«, die einmal am Tag vorbeischaut. Die zentrale Botschaft: »Du bist nicht allein«, sagt Simon. »Gehen bei einem Nachbarn morgens die Jalousien nicht hoch, dann schaut man nach.«

Das Wohnen ist gedacht für Berufstätige ebenso wie für 90-Jährige. Auch die Lindenhöfe werben mit einem Alleinstellungsmerkmal: »Viele andere waren angetreten. Doch die Wohnbau Lindenhöfe ist die einzige in Bayern, die dieses Konzept tatsächlich mit Leben gefüllt habt«, sagt Simon. Dass man die Siedlung im Grünen für ziemlich abgelegen halten könnte, lässt er nicht gelten. »Wir haben die Sanaklinik in sechs Kilometern Entfernung, jeder dritte Ort in der Fränkischen Schweiz hat eine Theatergruppe, das kulturelle Leben ist genial und das medizinische Angebot vergleichbar mit der Großstadt.« Er schaut hinüber zum Wald. »Und Spazierengehen tut auch mit 90 noch gut.« Mehr Infos hier.

Text: Angela Giese; Fotos: Kat Pfeiffer

Unser Aufmacher-Foto zeigt die Genossenschaft »Anders Wohnen« in der Karl-Bröger-Straße (rechts Geschäftsführerin Mandy Fuhrmann, in der Mitte Mitbegründer Fred Jantschke und links Vorständnin Isabel Damour Zelnhöfer) hat sich auf Ältere und Alleinerziehende spezialisiert.

 

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