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Der Autoatlas war das analoge Navi

Immer wieder erinnern wir uns an Dinge des Alltäglichen, die in vergangenen Jahrzehnten einmal richtig »schick« waren. Wer sie besaß oder nutzen konnte, war auf der Höhe der Zeit. Heute sind sie nicht mehr angesagt, weil wir inzwischen auf anderes mehr Wert legen. Oder sie sind im Zuge unserer veränderten Lebensgewohnheiten und vor allem mit der Entwicklung des digitalen Datenverkehrs überflüssig geworden.

Vielleicht gehörte der Schmöker zu den meist gelesenen Büchern gleich nach der Bibel. So genau hat das vermutlich niemand untersucht. Dennoch lag er immer wieder längere Zeit unbeachtet in der Ablage der Seitentür unseres Autos. Aber in den Großen Ferien, die in den 70ern noch so hießen, ehe alle Welt sich auf die »Sommerferien« freute, da wanderte der Autoatlas auch durch unsere Kinderhände. Mit unseren Fingern fuhren wir über die orangefarben eingezeichneten Hauptstraßen und lasen laut die eigenartigen Ortsnamen, auf die wir stießen: Zorge, Hohegeiß. Vater warf uns im Rückspiegel einen strengen Blick zu, schließlich sollte Mutter als Copilotin ihn lotsen. Doch jetzt hatten wir den Atlas in Händen… Wir zuckelten im Harz durch einen Wald unglaublich dicker Tannen, aus denen jeden Augenblick Rübezahl persönlich herauskommen musste, zumindest glaubten wir das. Von der Landschaft waren wir total verzaubert. Hier sollten in der Nähe auch die berühmten Hexen tanzen, das hatten wir gelesen, deswegen wollten wir ihn unbedingt sehen: den Brocken. Wie nah würden wir wohl an diesen mystischen Berg herankommen, ehe Todesstreifen und Zonengrenze zur DDR uns das Vergnügen verwehren würden? Vater hielt an, nahm den Kartenband an sich und hatte nach kurzem Studium die Lösung: Vom Wurmberg aus würden wir gut zum Brocken hinüber schauen können. Mutter legte ab jetzt den hunderte Seiten starken Atlas in ihren Schoß, vertiefte sich darin und musste den Weg ansagen: »Ich denke, nach Braunlage müssen wir uns links halten.« Kein Navi der Welt kann das so nett sprechen wie damals unsere Mutter, da bin ich mir sicher. Heute kommandieren uns die elektronischen Routensysteme im Bundeswehr-Ton auf kürzestem Weg ans Ziel, und sollten wir nicht gehorchen, müssen wir ein barsches: »Jetzt wenden!« über uns ergehen lassen. Früher riefen wir Kinder auf der Rückbank einfach: „Jetzt haben wir uns verfranst!« Und dass man vom Wurmberg auch einen wunderbaren Blick auf Elend, Kummer und Sorge hat, verrät uns das Navi schon gleich gar nicht.

Text: Elke Graßer-Reitzner; Foto: Wolfgang Gillitzer

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