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Wie sichern wir die Würde?

Möglichst lange zu Hause bleiben, ist der Wunsch vieler Älterer. Ambulante Pflege ist dabei oft nötig. Foto: Mile Cindric

So wie wir mit den Schwächsten umgehen, so steht es um den Grad unserer Zivilisation.« Der Ethiker Prof. Andreas Frewer will das auch und gerade auf ältere Menschen beziehen – und so gesehen müsste man sich über unsere Gesellschaft Sorgen machen. Von der Pflege ist meist – und häufig zu recht – mit dem Zusatz »-krise« oder »-notstand« die Rede, in der aktuellen Diskussion wird sie sogar schon mal zum Synonym für »Albtraum«.

Doch es gibt gute Ansätze, die Situation für Pflegende wie Betreute zu verbessern. Einer davon kommt aus der Wissenschaft. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) ist die Wahrnehmung ethischer und menschenrechtlicher Aspekte im Alter schon länger ein Thema. Andreas Frewer hat dort eine Professur für Ethik in der Medizin und leitet die Geschäftsstelle des Ethikkomitees der Uniklinik. Er und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen machen »Menschenrechte und Ethik in der Medizin für Ältere« jetzt auch zum Schwerpunkt eines gleichnamigen Graduiertenkollegs, das von der Josef-und-Luise-Kraft-Stiftung gefördert wird. Zehn ausgewählte Doktorandinnen und Doktoranden können nun intensiv forschen, etwa über den Umgang mit Patientenverfügungen, die Unterstützung von Menschen mit Demenz, die ethisch differenzierte Betreuung am Lebensende und rechtliche Fragen des Persönlichkeits- und Datenschutzes.

Patientin wurde am Sterben gehindert
Dass hier in Praxis und Forschung großer Nachholbedarf besteht, zeigte schon das Eröffnungssymposium Mitte Juni in der Orangerie im Erlanger Schlossgarten. So ist die bereits für geklärt gehaltene Frage der Patientenverfügung seit einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vor zwei Jahren wieder offen. Die oberste Instanz bemängelte die oft zu unpräzise formulierten Verfügungen, was in einem Fall zur Folge hatte, dass eine Patientin gegen ihren erklärten Willen am Sterben gehindert wurde. Was also ist ethisch und rechtlich geboten? Teilnehmer des Graduiertenkollegs werden sich damit befassen.

Andere werden die Sprache im klinischen und pflegerischen Alltag kritisch beleuchten. Man hat aus Fehlern gelernt, wie die Initiatoren Andreas Fewer und Heiner Bielefeldt, der Lehrstuhlinhaber für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der FAU, betonen, aber es liegt noch viel im Argen. Das »sozialverträgliche Frühableben« ist sprichwörtlich, es stammte vom früheren Ärztekammerpräsidenten Karsten Vilmar und wurde 1998 Unwort des Jahres. Andere Unworte sind ebenfalls gang und gäbe, wie der Ethiker betont: Wenn von »Alterslast« die Rede ist, obwohl ältere Menschen eine Bereicherung darstellen, von »aus­therapierten Patienten« und von deren »Restlaufzeiten«. Die Medizin bediene sich laut Frewer oft einer an Geheimdienste erinnernde Sprache, wenn sie etwa »Körper beschatten« oder in ihn »Hilfsgeräte einschleusen« – wobei auch hier das Objekt, der Patient, nicht erfahre, was der Arzt über ihn alles wisse. Und der Begriff »Alzheimer« sei keine Klassifizierung, sondern eine Abqualifizierung. Wo da die Menschlichkeit bleibe, will das Forum wissen, um gleichzeitig eine bessere Ärzteausbildung mit Blick auf ältere Patienten zu fordern: Eine Aufgabe auch für das Kolleg.

Eine weitere umreißt Prof. Heiner Bielefeldt, der zusammen mit Frewers das Kolleg begleitet. Er beklagt auf diesem Feld Wahrnehmungslücken. Verstöße gegen die Meinungsfreiheit würden zumeist im politischen Kontext angeprangert. Aber kaum jemand frage, wie das etwa bei Menschen mit mittlerer Demenz zu beurteilen sei, die sich nicht mehr artikulieren können oder denen niemand zuhöre. Oder wo der Schutz der Privatsphäre bleibe, wenn in der stationären Pflege Schamgrenzen überschritten würden oder werden müssten. Wie steht es um die Religionsfreiheit, wenn in Pflegeheimen Kreuze hängen? Wie mit dem Recht auf Arbeit im Rentenalter?

Nicht neue Menschenrechte seien hier nötig, betont Bielefeldt, sondern eine neue Betrachtungsweise. Man solle sich nicht auf die Verletzung von Menschenrechten fokussieren, hieß es später in der Diskussion, sondern auf ihre Verwirklichung. Denn Alt-Sein bedeutet für Bielefeldt nicht, »die Restzeit abzusitzen«, sondern dabei sein zu dürfen als respektierter Mensch. Das eröffne neue Perspektiven für eine Humanisierung der Gesellschaft.

Körperliche Verletzlichkeit nimmt zu
Was macht also, aus wissenschaftlicher Sicht, ein gutes Leben im Alter aus? Es ist eine Frage des menschlichen Umgangs miteinander und des rechtlichen Rahmens, in dem er stattfindet. Schon mit Eintritt ins Rentenalter beginnt eine Phase, in der sich Menschen neue Perspektiven eröffnen und neue Kreativität. Es beginnt aber auch für viele schon die Zeit, in der sie die körperliche Verletzlichkeit zunehmend spüren und mehr denn je »die Zukunft als begrenzt erfahren«. So drückte es der Pflegewissenschaftler Hartmut Remmers von der Universität Oldenburg aus. Es ist das Alter, in dem bei vielen die Neigung zu Depressionen wächst. Andererseits gibt es, individuell unterschiedlich, die sogenannte Resilienz, also die Fähigkeit, schwierige Situationen zu meistern. Man lernt, körperliche Mängel zu kompensieren, und es gibt zudem immer mehr medizinische Möglichkeiten, den Alterungsprozess zu bremsen.

Die Wissenschaft hat für diesen Lebensabschnitt den Begriff Gerotranszendenz geprägt, also eine Phase, in der im Alter Grenzen von Erfahrung und Bewusstsein überschritten werden. Demnach können sich neue Entwicklungsmöglichkeiten ergeben, obwohl man sich der eigenen Verletzlichkeit bewusst ist, etwa eine Hinwendung zu sozialem Engagement oder zu spirituellen Erfahrungen.

Wie der oder die Einzelne diesen Lebensabschnitt empfindet, ob als Bereicherung oder als Belastung, kommt auf die eigenen Erwartungen und Vorstellungen an sowie auf seine im Lauf des Lebens erworbenen Fertigkeiten, sich Neuem zu öffnen. Viel hängt auch vom sozialen und familiären Umfeld ab.

Ein hohes Maß an Unabhängigkeit
Noch viel gravierender sind solche Abhängigkeiten, sobald ein Mensch Betreuung oder Pflege braucht. Ambulante Pflege in häuslicher Umgebung ist unbestritten die beste Wahl. Mit Häuslichkeit verbindet sich die vertraute Umgebung mit Privatheit, Intimität, Geborgenheit und – was in der wissenschaftlichen Diskussion an der FAU eine besondere Rolle spielt – ein höheres Maß an Autonomie, also der Selbstbestimmung und der inneren Unabhängigkeit.

Allerdings sind damit auch Nachteile verbunden: Pflegende Familienangehörige haben oft nicht die nötige Sachkenntnis oder wegen der emotionalen Nähe Hemmungen, das Notwendige durchzusetzen. Und es besteht die Gefahr, dass die Pflege Angehörige überfordert, aber auch die Betreuten selbst, die sich womöglich in der Rolle eines Kindes wiederfinden.

Eine Aufgabe des Kollegs wird es demnach auch sein, Möglichkeiten zu finden, wie die menschlichen Beziehungen der häuslichen Pflege auf die professionalisierte Pflege übertragen werden können. Das hat viel mit dem Mangel an Pflegekräften zu tun, deren Ausbildung, ihrer Bezahlung und Wertschätzung in der Gesellschaft. Aber nicht nur. Nötig ist ein besseres Verständnis der Bedürfnisse Älterer und ihrer Fähigkeiten. Auch Roboter für bestimmte Tätigkeiten in der Pflege sind eine Alternative – wenn ansonsten die menschliche Zuwendung gewährleistet ist. Und schließlich müssen Autonomie und Menschenrechte gewahrt bleiben, bis hin zum Lebensende, wie Prof. Frewer betont. Angesichts der Leistungen der Palliativmedizin wird sachkundige Sterbebegleitung zunehmend an die Stelle von Sterbehilfe treten.

Die Palliativstation an der Uni-Klinik hat einen ausgezeichneten Ruf. Ebenso die Geriatrie im Erlanger Malteser-Waldkrankenhaus unter Leitung von Prof. Karl-Günter Gaßmann, die jüngst ihr 20-jähriges Bestehen feierte. Was Frewer noch vermisst, ist ein Lehrstuhl für Pflege an der FAU. Und noch eines wurde im Symposium deutlich: Um dem Leben im Alter gerecht zu werden, fehlt eine internationale Vereinbarung, die der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht. Denn die hat schon vielen Betroffenen den Weg zur Inklusion, zur gleichwertigen Teilhabe, geebnet.

Text: Herbert Fuehr

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