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Verdammt, wo bleibt die Altersmilde?

Die Altersweisheit will sich trotz aller Übungen einfach nicht einstellen. Warum nur? Zeichnung: Sebastian Haug
Die Altersweisheit will sich trotz aller Übungen einfach nicht einstellen. Warum nur? Zeichnung: Sebastian Haug
Kurz nach ihrem 75. Geburtstag bestellte meine Tante ihre Tageszeitung ab. »Ich will nur noch das Schöne wissen«, erläuterte sie mir, ihrer verwunderten Nichte. Politische Magazine im Fernsehen fielen ebenfalls unter den Boykott, wodurch das Informationsangebot nahezu versiegte. »Was schaust du dir denn stattdessen an?«, fragte ich nach. »Ach, mach dir keine Sorgen, es gibt ja noch eine Menge anderer Sendungen«, tröstete sie mich. »Konzertübertragungen, Tierreportagen und schöne Filme.« Und schob achselzuckend nach: »Ich kann ja doch nichts ändern am Elend in der Welt. Und die Politiker machen sowieso was sie wollen – also, sag mal, warum soll ich mir das antun?«
Ja, das weiß ich auch nicht. Bloß habe ich dieses Stadium der Weltabgewandtheit bis jetzt noch nicht erreicht. Nach wie vor rege ich mich auf über die Zustände in meiner Stadt, im Land und überhaupt überall, der Vorrat an Empörung nimmt nicht ab. Ich tausche mich aus mit Freunden und Bekannten, die zwar alt, aber auch noch auf dem Laufenden sind. Gemeinsam ereifern wir uns über Gott und die Welt, über Salafiten und Wahabiten, die amerikanischen Republikaner, den Atommüll und den Klimawandel, über Syrien, China und unsere eigene Regierungsmannschaft. Die Themen gehen uns nicht aus.
Neulich morgens habe ich innegehalten. Auf meinem Kalenderblatt stand ein Spruch: »Man kann sich täglich ärgern, aber man ist nicht dazu verpflichtet.« – Stimmt eigentlich. Ich pappe das kleine Blatt an meine Pinnwand und beschließe, mit den kleinen Alltagsdingen anzufangen.
Also: Wenn die Nachbarin das Laub von »unserem« Baum schimpfend zurück über den Gartenzaun schmeißt, und dabei extra auf eine Kiste steigen muss, weil sie sonst zu klein ist, finde ich das ab jetzt bloß noch komisch. Ebenso kriege ich nur einen ganz kleinen Wutanfall, wenn in der Papiertonne ein großer Kürbis vor sich hin modert. Hundehäufchen vor dem Haus registriere ich cool und hole den Gartenschlauch. Auch im Haushalt gibt es genügend Übungsmaterial für das Fach Gelassenheit. Zusammengefallener Kuchen, verbrannte Bratkartoffeln oder Katzenhaare im Pudding – wen regt das auf?
Draußen vor der Tür wird es schon schwieriger. Ich fahre mit der U-Bahn in die Stadt, eine junge Frau und ihr kleiner Sohn sitzen mir gegenüber. Der Kleine stuppst immer mal wieder seine Mutter an, bemüht sich um ihre Aufmerksamkeit. Die lässt sich nicht stören und spricht pausenlos in ihr Handy. Das legt sie auch beim Aussteigen nicht aus der Hand, sondern zerrt ihren Kleinen achtlos hinter sich her. Mein Magen grummelt vor Zorn. Als ein eiliger Jungmanager mir die Eingangstür zum Supermarkt vor der Nase zuknallt, schicke ich ihm ein aufgebrachtes »Flegel« hinterher und bin leider auch nicht imstande, lieb zu lächeln, als mir jemand im Laden seinen Einkaufswagen in die Kniekehlen rammt. Immerhin sage ich keinen Ton. Na, geht doch.
Angeblich stellt sich in den späten Jahren eine gewisse Altersmilde ein. Wenn das stimmt, so lässt sie sich bei mir schrecklich viel Zeit. Außerdem kann ich mir nicht richtig vorstellen, wie sie sich äußern würde, wenn sie denn einträfe. Würde ich wie ein weiblicher Guru friedfertig durch die Räume schreiten und die Welt unkommentiert ihrem Schicksal überlassen? Nur noch, wie meine Tante, »an das Schöne denken« und nichts mehr an mich heran lassen? Was für ein grässlicher Gedanke.
Brigitte Lemberger
Cartoon: Sebastian Haug

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