Viele ältere Menschen essen zu wenig oder zu einseitig – mit oft gravierenden Folgen: höheres Risiko für Infektionen, schlechtere Heilungschancen, geringere Lebensqualität. Wie man Mangelernährung im Alter erkennen kann und was Betroffene, aber auch Angehörige dagegen tun können, erläutert im Interview mit sechs+sechzig Prof. Dr. Dorothee Volkert, die jüngst dazu eine Studie veröffentlicht hat. Volkert ist am Institut für Biomedizin des Alterns beim Lehrstuhl für Innere Medizin – Geriatrie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) tätig. Sie hat dort die Professur für Klinische Ernährung im Alter inne, ist außerdem Lehrbeauftragte am FAU-Institut für Psychogerontologie und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin.
sechs+sechzig: Frau Professor Volkert, gibt es einen besonderen Anlass, dass Sie sich mit dem Thema Mangelernährung im Alter auseinandersetzten?
Dorothee Volkert: Mit meiner Professur bin ich ja auf die Ernährung im Alter spezialisiert und befasse mich seit vielen Jahren auch mit dem besonderen Thema der Mangelernährung. In der letzten Zeit haben wir viele Erkenntnisse in diesem Bereich dazugewonnen, die Problematik ist aber insbesondere bei hochbetagten Patienten im Krankenhaus schon lange bekannt.
Wie kann man feststellen, ob man betroffen ist?
Wenn die Kleider zu weit werden oder der Ring vom Finger rutscht, sind das deutliche Anzeichen. Selbst merkt man ja auch, wenn das Essen immer fader schmeckt oder der Appetit fehlt. Am besten ist es, sich regelmäßig zu wiegen, so kann man frühzeitig auf eine Gewichtsabnahme aufmerksam werden und entsprechend gegensteuern.
Viele Betroffene sagen, weniger Appetit, weniger Lust, einzukaufen oder zu kochen, Einschränkung der Beweglichkeit oder größere Anfälligkeit für Erkrankungen seien ganz normale Alterserscheinungen.
Ein Stück weit ist es sicher auch richtig, dass sich diese Dinge mit dem Alter ändern, entscheidend ist jedoch das Ausmaß. Mir geht es um die übermäßigen Änderungen, hinter denen noch andere Ursachen stecken als nur das Alter, zum Beispiel Nebenwirkungen von Medikamenten, Schwierigkeiten beim Einkaufen oder Kochen, Einsamkeit oder eine unentdeckte Depression. Diese Ursachen werden leicht übersehen oder man sieht vielleicht selbst keine Möglichkeit, etwas zu ändern. Viele dieser Ursachen lassen sich aber bessern oder sogar beseitigen.
Nach welchen Kriterien kann Mangelernährung gemessen oder diagnostiziert werden?
Seit einigen Jahren gibt es weltweit einheitliche Kriterien zur Diagnose von Mangelernährung. Dazu zählen ein ungewollter Gewichtsverlust oder ein niedriges Körpergewicht beziehungsweise eine verringerte Muskelmasse in Verbindung mit einer geringen Nahrungsaufnahme oder einem erhöhtem Nahrungsbedarf durch Krankheit oder Stress. Für den ärztlichen Alltag gibt es kurze Fragebögen, mit denen diese Punkte geprüft werden, sogenannte Screening-Instrumente. Eines dieser Instrumente gibt es auch als Fragebogen für ältere Menschen, den man selbst ausfüllen kann. Zu finden ist er unter der folgenden Web-Adresse: www.mna-elderly.com
Sind Ärzte genügend ausgebildet, um Mangelernährung im Alter erkennen und behandeln zu können?
Die Ernährung kommt in der Ärzteausbildung leider nur am Rande vor und sollte dort eigentlich einen größeren Stellenwert haben. Vieles ist aber auch Allgemeinwissen und gesunder Menschenverstand. Allerdings werden Ärzte nicht dafür honoriert, dass sie sich um die Ernährungsprobleme ihrer Patienten kümmern – und sie haben wenig Zeit. Da geht das Thema leider meist unter. Damit Ernährungsprobleme nicht übersehen werden, müsste es zur Früherkennung eine routinemäßige Erfassung mit den zuvor erwähnten Screening-Instrumenten geben.
Ein Problem ist sicher auch, dass immer mehr ältere Menschen allein leben und sich Anderen oder auch Familienmitgliedern nicht anvertrauen.
Ja, vermutlich hat das mit dem Wunsch zu tun, selbstständig und unabhängig zu bleiben und niemandem zur Last zu fallen. Das ist sehr verständlich, aber Probleme auszublenden, finde ich keine gute Lösung. Im Alter kann sich eine Situation schnell akut verschlechtern und die Behandlung ist meist langwierig. Deshalb halte ich es für wesentlich besser, frühzeitig, vorbeugend zu überlegen, wie man vielleicht eine gute Ernährung unterstützen und beibehalten kann. Im Austausch mit Angehörigen, Freunden oder Bekannten stellt man vielleicht fest, dass es anderen ähnlich geht und findet gemeinsam Ideen, gegenzusteuern.
Was können Angehörige tun, wenn sie einen Verdacht auf Mangelernährung haben?
Am besten ist es immer, offen über die Dinge zu reden und gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, wie man damit umgehen möchte. Die Sorge der Angehörigen ist berechtigt und sollte von den Betroffenen auch ernst genommen werden. Oft entwickeln sich im Gespräch Ideen und Lösungsmöglichkeiten, die man ausprobieren könnte und die dann für alle Beteiligten in Ordnung sind. Auch beim Hausarzt sollten die Probleme offen angesprochen werden, vor allem auch um zu klären, ob es eventuell medizinische Ursachen für den fehlenden Appetit oder Gewichtsverlust gibt.
Welche Möglichkeit der Behandlung gibt es?
Es ist zuallererst ganz wichtig, die Ursachen der Appetitlosigkeit oder einer Gewichtsabnahme herauszufinden und dann so weit wie möglich Abhilfe zu schaffen. Fehlt mir zum Beispiel die Lust, für mich alleine zu kochen und alleine zu essen? Dann könnte ein offener Mittagstisch oder die Einladung einer Nachbarin zum gemeinsamen Kochen und Essen helfen. Vielleicht braucht es auch Unterstützung beim Einkaufen, damit genügend frische Lebensmittel vorrätig sind. Bei Geschmacksveränderungen oder Mundtrockenheit muss die Medikamentenverordnung überprüft werden. Bei Schluckproblemen kann eine logopädische Behandlung möglicherweise helfen. Schmerzen und Krankheiten aller Art müssen ärztlich gut behandelt werden. Die Ernährung selbst muss so gestaltet werden, dass der tägliche Bedarf an Energie und Nährstoffen gedeckt werden kann, sei es durch zusätzliche Zwischenmahlzeiten, durch gehaltvolle Zubereitung wie etwa mit Eiern, Sahne, Pflanzenölen und Nüssen. Oder es werden zusätzliche Nährstoffe in Pulverform in Speisen und Getränke eingerührt. Wenn übliche Mahlzeiten nicht ausreichen, können auch Trinknahrung und im Einzelfall Sondenernährung sinnvoll sein.
Gibt es oft Befürchtungen, dadurch bevormundet oder gar wie ein Pflegefall behandelt zu werden?
Dazu kenne ich keine Daten, könnte mir aber durchaus vorstellen, dass es diese Befürchtungen gibt. Allerdings liegt es doch an einem selbst, inwieweit man sich bevormunden lässt oder aktiv die Entscheidungen gestaltet. Es ist keine Bevormundung oder Schande, nötige Hilfe und Unterstützung anzunehmen, wenn man selbst an seine Grenzen kommt. Das Recht auf Selbstbestimmung muss man dabei nicht abgeben. Im Gegenteil: Man sollte soweit wie möglich zur Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse beitragen.
Interview: Herbert Fuehr
Foto: privat