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“Die Zeit möchte ich haben”

Vormittags zwischen elf und zwölf Uhr ist Rushhour in meinem Drogeriemarkt. Zu dieser Zeit und in diesem Nürnberger Stadtteil mit vielen Ausländern findet zwangloses Multikulti zwischen den Regalen statt. Vorbei an Kosmetikartikeln, Putzmitteln und Babynahrung schieben junge Mütter ihre Kinderwagen, die Größeren der Kleinen haben freien Auslauf und genießen ihre Freiheit. Es scheint, als hätten diese jungen Frauen unterschiedlicher Herkunft alle Zeit der Welt und keinen Drang, ihren Nachwuchs dauernd zu disziplinieren.

Cartoon: Sebastian Haug
Cartoon: Sebastian Haug
Vormittags zwischen elf und zwölf Uhr ist Rushhour in meinem Drogeriemarkt. Zu dieser Zeit und in diesem Nürnberger Stadtteil mit vielen Ausländern findet zwangloses Multikulti zwischen den Regalen statt. Vorbei an Kosmetikartikeln, Putzmitteln und Babynahrung schieben junge Mütter ihre Kinderwagen, die Größeren der Kleinen haben freien Auslauf und genießen ihre Freiheit. Mama ist schließlich abgelenkt, schlendert durch den Laden, das Handy am Ohr, langt mit lässigem Griff in dieses oder jenes Regal. Auf dem Wickeltisch wird, wenn es sein muss, das Jüngste versorgt, man trifft Bekannte und hält in seiner Muttersprache einen kleinen Plausch. Es scheint, als hätten diese jungen Frauen unterschiedlicher Herkunft alle Zeit der Welt und keinen Drang, ihren Nachwuchs dauernd zu disziplinieren. Ein Entschleunigungsprogramm, gewöhnungsbedürftig für manch einen aus der einheimischen Kundschaft, die sonst zielstrebig auf die gewünschte Ware und die nächste Kasse zusteuert und sich nun gezwungenermaßen im Schneckenslalom durch den Laden windet.

Von so viel Gemächlichkeit kann meine junge Freundin Shewit nur träumen, wenn sie denn Zeit zum Träumen hätte in ihrem vollgestopften Tagesplan. Morgens um sechs klingelt der Wecker, um sieben ihre Mutter – die Großmutter von Baby Tom. Papa ist um diese Zeit längst aus dem Haus. Bevor sich Shewit die Autoschlüssel schnappt und selbst zur Arbeit fährt, kriegt Oma von der Mama noch ein paar Ermahnungen: “Denk dran, keine Süßigkeiten für Tommy, und sprich mit ihm kein Deutsch!” – Oma nickt und lächelt ihrem konsequent bio-ernährten Enkel zu, zwischen dessen makellose weiße Zähnchen sich laut Dekret seiner Mutter kein Bonbon verirren darf.

Die beiden sind jetzt ein paar Stunden allein, und ihre Verständigung klappt hervorragend, in welcher Sprache auch immer. Theoretisch hat Tommy die Auswahl: Mama und Papa sprechen neben einwandfreiem Deutsch auch die Muttersprache ihrer Eltern, Rumänisch und Tigrinya. Abeba, die Großmutter, die vor mehr als dreißig Jahren mit der damaligen Flüchtlingswelle aus dem Bürgerkriegsland Eritrea floh und in Nürnberg hängen blieb, ignoriert nach wie vor die Regeln der deutschen Grammatik und soll ihren Enkel deshalb nicht mit ihrem Kraut-und Rüben-Deutsch infizieren.

Am frühen Nachmittag ist der Babysitterdienst der Oma beendet. Shewit kommt aus dem Büro heim, übernimmt Kind, Küche, Wäsche und was sonst noch ansteht. Den Einkauf erledigt der Papa. Ihr Marathonlauf durch den anstrengenden Alltag gleicht dem vieler anderer junger Eltern.

Ob die lässig durch den Vormittag bummelnden Mütter aus meiner Drogerie insgeheim von diesem “modernen deutschen” Leben träumen? Und die Omas? An warmen Tagen sitzen sie gern in bequemer Haltung auf der Bank unter dem bisschen Grün und schauen ohne Eile dem Leben zu, das um sie herum stattfindet. Für Oma Abeba käme das nicht in Frage. Sie hat ihr Leben so organisiert, dass sie den eigenen Haushalt und die Babybetreuung unter einen Hut bringen kann, achtet auf ihre Ernährung und joggt täglich ein paar Runden, um fit zu bleiben. Von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf in der Nähe der eritreischen Hauptstadt Asmara wird sie ihrem Enkel erzählen, wenn er größer ist, und es wird ihm vorkommen wie der Bericht aus einer fernen, fremden Welt.

Ich schaue mich um und sehe die kleinen Babyboomer unserer Tage friedlich in ihren Kinderwagen schlummern, während die Mütter entspannt den Laden durchstreifen. “Beneidenswerte Zwerglein”, kommt es mir in den Sinn, während ich, halb genervt und halb bewundernd, einen kurzen Zwangsstopp vor einem parkenden Gefährt einlege, “ihr und eure Mamas habt noch das, was den meisten von uns abhanden zu kommen scheint: ganz viel Zeit!”

Brigitte Lemberger

Cartoon: Sebastian Haug

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