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FOTO: Privat; DL 2016 aus dem PRessebereich der Homp. MOTIV: Portrait THeologe und Autor Reimer Gronemeyer
Soziologe Reimer Gronemeyer spricht bei einer Podiumsdiskussion über den Ruhestand zwischen Konsum und Krankheit. Foto: NN-Archiv.

Diese Sache, über die wir in unserem Magazin hauptsächlich berichten – was ist sie eigentlich: das Alter. Eine natürliche Lebensphase? Eine intellektuelle Zumutung? Eine physische Herausforderung? Eine Krankheit? Ein schreckliches Phänomen, das wir hinter vitalen Titelbildern verstecken? Lesen wir ein paar Zeilen aus dem Buch eines bekannten Soziologen und Altersforschers: “Wir tun so, als sei Ethnografie etwas für die Erforschung primitiver Völker im Amazonasbecken oder in den Urwäldern Borneos. Aber wir könnten eine Ethnografie unserer Alten schreiben, die wie ein fremder Stamm zusammengefasst im modernen Dschungel der Heime oder vereinzelt in den Netzen ambulanter Dienste ihr vor der Öffentlichkeit verborgenes unerforschtes Leben führen.”

Das ist auch eine mögliche Definition dieser Sache: Alter als exotisch erscheinende Stammesgemeinschaft. Der Hamburger Soziologe Reimer Gronemeyer macht diesen Vorschlag in einem Buch mit dem Titel “Alt werden ist das Schönste und Dümmste was einem passieren kann”. Das Dümmste, das wird schon klar, aber nicht deshalb, weil das Alter nicht das Natürlichste wäre. Sondern deshalb, weil es in unserer Gesellschaft entweder als Wirtschaftsfaktor vermarktet oder als Krankheit bewirtschaftet wird. Mit Konsum hat es nach Gronemeyer in jedem Fall zu tun, entweder mit dem Konsum der Anti-Aging-Angebote oder mit dem Konsum von Medikamenten. Wobei die Kosmetik- und Fitnessprodukte letztlich auch nur Betäubungsmittel sind.

Eine tiefe Fähigkeit zum Erfahren dieser Welt
Der Soziologe, der einmal Theologie studiert hat, schreibt: “Das Thema erfolgreichen Alterns erfreut sich in der Gerontologie erschreckender Beliebtheit. Konkurrenzbewusst muss man sein. Man muss akkumulieren, was das Zeug hält, um bis zum aufgeklappten Sarg als erfolgreich dazustehen. Wieso muss man als Alter eigentlich an dem allgemeinen grinsend-fröhlichen Schwachsinn teilhaben? Nur damit die Jüngeren nicht beunruhigt sind, wenn sie an ihr eigenes Alter denken?”

Das Alter muss man laut Reimer Gronemeyer einfach annehmen. Dann kann man auch das Schönste dieses Lebensabschnitts entdecken: Eine tiefere Fähigkeit zum Erleben und Erfahren der Welt. Das liest man aus Gronemeyers Buch nur mühsam heraus. Diesen Aspekt hat er in einem Rundfunkgespräch deutlicher geschildert: Die ergreifende Begeisterung über einen afrikanischen Sternenhimmel nach dem Aufreißen der Regenwolken. Dafür muss man, wie der Soziologe, mit 76 Jahren allerdings noch fit für Afrika sein.

Mit 89 Jahren ist man eigentlich “Ein sterbender Mann”. Aber selbst einer der größten deutschen Autoren mag sich in genau diesem Alter in seinem jüngsten Roman mit genau diesem Titel nicht so recht darauf einlassen. Martin Walser hat im Nürnberger Literaturhaus aus seinem Buch gelesen. Aus einer Geschichte, deren Held schon mal ein gutes Stück jünger ist als der Schriftsteller. Walser hat einen 72-Jährigen erfunden, der sich in Suizidforen des Internets herumtreibt. Aber nicht aus Altersgründen, sondern weil ihn ein Freund (und Dichter!) in den Bankrott getrieben hat. Diese Figur – Theo Schadt – leidet am Scheitern, nicht am Altern. Er spürt sogar noch einmal alle Frühlingsgefühle bei der Begegnung mit einer Frau, allerdings nicht gesteigert durch Gronemeyers Altersklarheit, sondern weil das stets ein zentrales Thema von Martin Walser war.

Walser, der als Erzähler über den Abgrund des Alters hinweg balanciert, blickt als Aphoristiker unerschrocken hinein. Denn das ist diese Sache ja ebenfalls: Stoff, aus dem man Bücher macht. Die Abteilungen für Alters-Literatur könnten in jedem Jahr erheblich wachsen, wenn es sie auf den Buchmessen denn gäbe. Das lenkt die Gedanken zurück zu Reimer Gronemeyers Buch, in dem das Alter sehr stark als Marktplatz erscheint: “Das Management der Alten ist – wie kürzlich der Präsident des Verbandes der Altenheimleiter sagte – die größte Wachstumsbranche Deutschlands.”

Mit Bezug auf den mittelalterlichen Mystiker und Theologen Meister Eckhart weist der Soziologe darauf hin, dass eine exzellente Devise für das Alter sei: Lassen, loslassen, aufgeben! Das sei die Voraussetzung für Gelassenheit. Dem scheint das Motto der Messe “inviva” zu widersprechen: “Mitten im Leben …” Aber das ist wohl ein ziemlich euphorischer Slogan, und damit eigentlich ganz passend. Denn Euphorie bedeutet medizinisch vor allem ein letztes positives Aufwallen der Gefühle in schwerer Krankheit. Oder, wie Nürnbergs früherer Kulturreferent Hermann Glaser definiert hat: “Heiterkeit vor dem Ende.” Und genau damit hat diese Sache nun einmal zu tun.

Herbert Heinzelmann

Reimer Gronemeyer: “Alt werden ist das Schönste und Dümmste was einem passieren kann”. Edition Körber-Stiftung. 210 S., 18 Euro
Martin Walser: “Ein sterbender Mann”. Roman. Rowohlt Verlag. 287 S., 19.95 Euro

inviva-Tipp: Reimer Gronemeyer wird am Donnerstag, 25.Februar, um 11 Uhr auf der Messe “inviva” mit der ehemaligen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt über das Thema “Ruhestand – wo ist die Ruhe hin?” diskutieren. Herbert Heinzelmann moderiert (Hauptbühne in Halle 12B).

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