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Hier regiert die Langsamkeit

Lange Zeit gab es für die Betreuung von Demenzkranken nur zwei Möglichkeiten: Sie wurden entweder zu Hause gepflegt oder zogen in ein Heim. Anfangs entstanden "beschützende Abteilungen" für Altersverwirrte, später entwickelten viele Häuser ein Wohngruppen-Konzept. Denn eine kleinere Gemeinschaft hilft den Betroffenen, sich auch beim Fortschreiten der Krankheit wohl zu fühlen. Inzwischen setzen Fachleute und Angehörige zunehmend auf Wohngemeinschaften (WG), die außerhalb eines Pflegeheimes entstehen.

Geselligkeit wird großgeschrieben. Das gemeinsame Singen gehört dazu. Fotos: Michael Matejka

Lange Zeit gab es für die Betreuung von Demenzkranken nur zwei Möglichkeiten: Sie wurden entweder zu Hause gepflegt oder zogen in ein Heim. Anfangs entstanden “beschützende Abteilungen” für Altersverwirrte, später entwickelten viele Häuser ein Wohngruppen-Konzept. Denn eine kleinere Gemeinschaft hilft den Betroffenen, sich auch beim Fortschreiten der Krankheit wohl zu fühlen. Inzwischen setzen Fachleute und Angehörige zunehmend auf Wohngemeinschaften (WG), die außerhalb eines Pflegeheimes entstehen. Für sie gelten andere gesetzliche Vorschriften als bei stationären Einrichtungen, was zu mehr Freiraum für die Bewohner führt.
Doch in finanzieller Hinsicht werden die Menschen dort so behandelt, als ob sie zuhause gepflegt würden. Also gelten nur die Pflegesätze für eine ambulante Versorgung. Daher werden sie ambulante Wohngemeinschaften genannt, obwohl die Bewohner 24 Stunden am Tag betreut werden und dauerhaft dort leben. Eine Gegenüberstellung der neuen Form des Zusammenlebens von Demenzkranken in einer solchen WG mit dem bereits erprobten Wohngruppenkonzept in Heimen soll Familien bei der Entscheidung helfen: Wo ist mein Angehöriger am besten aufgehoben?

Farbe sorgt für Orientierung

Der Grundriss ist immer ähnlich, egal um welche Wohngruppenform es sich handelt. In der Regel bilden eine Küchenzeile samt Essplatz das Zentrum der Wohnung. Das trifft auf die moderne Wohneinheit der Caritas in der Nürnberger Poppelstraße ebenfalls zu. Diese befindet sich im Wohnblock der katholischen Joseph-Stiftung. Die Wohnungsbaugesellschaft hatte sich bereits vor Baubeginn entschlossen, Räume für eine ambulante Wohngruppe mit dementen Menschen bereitzustellen. Sie sind nun ideal auf die Bedürfnisse der Bewohner abgestimmt. Das reicht sogar bis zu den Türen. Hinter den blauen verbergen sich Wasch- und Toiletten-räume. Die Farben erleichtern die Orientierung, erklärt Gertraud Krammer. Die 50-Jährige begleitete die Wohngruppe für altersverwirrte Menschen während der ersten 18 Monate. Es ist das erste Projekt dieser Art im katholischen Sozialdienst der Stadt Nürnberg. Doch schon knapp zwei Jahre nach dem Erstbezug zeigt sich, diese Wohnform ist durchaus eine Möglichkeit, Menschen mit Demenz in ihren letzten Lebensjahren zu versorgen. Doch sie ist sicher nicht für jeden geeignet.
Im Garten, der zur Gemeinschaftswohnung gehört, läuft eine Frau im Trainingsanzug. Sie ist erst Anfang 60 und relativ fit. Die Pflegerin erzählt, dass die einst sehr sportliche Demenzkranke früher öfter über den Gartenzaun auf das Nachbargrundstück geklettert sei. Dazu ist die Frau nun nicht mehr in der Lage, ihr Zustand hat sich zuletzt rapide verschlechtert. Die Pflegekräfte kennen ihre Eigenheiten und achten besonders auf sie. Dabei handelt es sich bei der Bewohnerin nicht einmal um einen Menschen mit Weglauftendenz, sondern einfach um jemanden, der einen Teil seiner geistigen Fähigkeiten verloren hat und an die noch vorhandenen Kenntnisse anknüpft. Dafür können die Betreuer hier Verständnis aufbringen, denn die Personaldichte ist in einer ambulanten WG relativ hoch. Meistens sind drei Betreuer mit unterschiedlichen Qualifikationen vor Ort, nachts reicht eine Pflegekraft für die neun Bewohner. Mehr Plätze sind in dieser modellhaften Gemeinschaftswohnung nicht vorgesehen.
Scharfe Messer sind erlaubt
Der gute Personalschlüssel macht die Arbeit in der WG für Pflegekräfte attraktiv, berichtet die Moderatorin Gertraud Krammer. Allerdings unterscheidet sich die Arbeit deutlich von der in anderen Altenpflegeeinrichtungen. “Die Mitarbeiter müssen die Langsamkeit lernen”, sagt die Expertin. Denn in dieser Wohnung, die sich so perfekt in die Wohnanlage einpasst, dass sie von außen gar nicht als besondere Einrichtung wahrgenommen wird, versuchen die Fachleute, einen möglichst vertrauten Tagesablauf zu schaffen. Das bedeutet, dass sich jeder Bewohner einbringen sollte. Ob das beim Wäsche Aufhängen geschieht oder beim Kochen, spielt keine Rolle. Es geht schließlich nicht um die Leistungsfähigkeit jedes einzelnen, sondern um eine sinnvolle Beschäftigung. Deswegen dürfen die Handgriffe ruhig etwas länger dauern. Die Köchin nimmt sich für die Zubereitung des Essens beispielsweise fünf Stunden Zeit. Dafür dürfen ihr die Bewohner beim Schnippeln helfen. Ein scharfes Messer in der Hand von Verwirrten? Kein Problem, meint Gertraud Krammer. In der Poppelstraße ist manches möglich, was in einem Heim undenkbar wäre. Schließlich leben die Dementen in einer privaten Wohnung. Jedes Mitglied der Wohngemeinschaft, beziehungsweise ihre Angehörigen, haben einen Mietvertrag mit der Joseph-Stiftung abgeschlossen. Gemeinschaftskosten werden umgelegt, Pflegekosten, je nach Einstufung in die Pflegestufe, individuell abgerechnet.
Eingeübte Tätigkeiten fallen den Erkrankten oft leicht. Des-halb werden sie in die alltäglichen Arbeiten eingebunden.

“Bei uns ist vor allem die Mittelschicht vertreten”, weiß die Caritas-Mitarbeiterin Krammer. Etwa 1700 Euro sind aus dem Privatvermögen oder der Rente monatlich als Zuschuss nötig, um diese individuelle Wohnform zu finanzieren. Zusätzliche Leistungen wie der Aufenthalt in einer Tagesbetreuung schlagen mit weiteren Kosten zu Buche.
Das ist bei der Wohngruppe am Leonhardspark in Nürnberg kaum anders. Dort wurde ebenfalls schon im Architektenentwurf eine ambulante Demenz-WG eingeplant. Aber im Gegensatz zu dem Projekt “Leben wie im Kirschgarten” in der Poppelstraße im Nürnberger Nordwesten sind hier nicht alle Zimmer belegt. Das liegt sicherlich nicht nur daran, dass bei der Caritas vor allem Besucher der Tagesbetreuung für stark pflegebedürftige Senioren irgendwann in die dortige WG wechseln und eine ähnliche Anbindung in St. Leonhard nicht existiert. Es mag auch an der Aufteilung der Wohnung im ehemaligen Schlachthofviertel liegen, die mit langen Gängen die einzelnen Räume verbindet, oder an den Kosten. Denn hier ist ein Zimmer trotz des sozial geförderten Quadratmeterpreises deutlich teurer. In Pflegestufe eins übersteigt der Eigenanteil auf jeden Fall die 2000-Euro-Grenze. Schuld daran ist unter anderem die Haltung der Pflegekassen und anderer Kostenträger. Denn im Leonhardspark Lebende können nur den Pflegesatz der ambulanten Versorgung in Anspruch nehmen, obwohl die Versorgungsqualität mit der in einer stationären Einrichtung vergleichbar ist. Rund um die Uhr werden die vier Bewohner der auf elf Plätze ausgerichteten Wohngemeinschaft betreut.
Ein Teil des durch die Unterbelegung entstehenden Defizits übernimmt der Gebäudeeigentümer, ein Teil wird dem Pflegedienst zugeschlagen. Gerade steht ein Wechsel an: Der Dienst “Micura”, der in Krefeld und Münster weitere derartige Einrichtungen betreut, hat sich Ende August von der WG verabschiedet. Seit Anfang September versorgt “Heidis Hauskrankenpflege” aus Langenzenn im Kreis Fürth die Bewohner. Über die Gründe der Trennung möchten weder die Moderatorin der WG, Rose Schmitt, noch der Leiter der Wohngemeinschaft, Jürgen Rattay, viel sagen. Rattay hat selber seinen Arbeitgeber gewechselt und ist nun nicht mehr bei “Micura”, sondern beim neuen Anbieter beschäftigt.
Umgekehrt hält sich auch “Micura” bedeckt, was die Hintergründe angeht. Grundsätzlich hält Gesa Flüchter, in Nürnberg zuständig für den Pflegedienst, die Art der Versorgung von Demenzkranken für geeignet und auch die finanzielle Förderung durch die Politik für ausreichend. Zum konkreten Fall ließ sie lediglich verlauten, dass es “zuletzt deutlich unterschiedliche Vorstellungen darüber gegeben habe, in welchem Umfang und zu welchen Bedingungen Micura die Pflege erbringen sollte”.
Wer nicht selber über ein gutes Einkommen im Ruhestand verfügt oder über ein größeres Vermögen, könne die Kostenübernahme beim Sozialamt beziehungsweise beim Bezirk Mittelfranken beantragen, erläutert WG-Moderatorin Rose Schmitt. Allerdings seien die Regelungen im Moment nicht eindeutig und würden gerade neu ausgehandelt.
Für wen ist eine solche Wohngemeinschaft überhaupt geeignet? Existieren unabhängig von den Kosten noch andere Kriterien, die man bei der Auswahl beachten sollte? Andrea Koydl, Leiterin des Pflegeheims “Kompetenzzentrum für Menschen mit Demenz” am Tillypark im Nürnberger Westen, fallen einige Punkte ein. Schließlich leitet sie eine stationäre Einrichtung mit einem Wohngruppen-Konzept. Zunächst sei es wichtig, ob ein Heim einen segregativen Ansatz verfolgt (ob also ausschließlich Demenzkranke zusammen wohnen) oder ein integrativen (eine Mischung aus Bewohnern mit unterschiedlichen Erkrankungen), erklärt die Expertin für Demenzkranke, die bei der Diakonie beschäftigt ist.
Im Haus am Tillypark leben 95 Bewohner in acht Wohngruppen, dazu ist Platz für einen Gast. Wenn ein Bewohner noch das Haus verlassen kann, greifen technische Hilfen zum Orten der alten Menschen mit Orientierungsschwierigkeiten. Das ist inzwischen in vielen Einrichtungen so geregelt. In integrativen Heimen finden sich meist beschützende Abteilungen für Verwirrte mit einem größeren Bewegungsdrang, sie können ihre Station nicht verlassen. Das ist in Wohngemeinschaften verpönt. Hier dürfen sich alle frei bewegen, auch in den Gärten, die inzwischen standardmäßig dazugehören.

Spannungen werden akzeptiert

Bei Andrea Koydl im Tillypark steht ebenfalls der “gelebte Alltag” im Mittelpunkt. Die Einbeziehung der Kranken in die Versorgung der Gruppe ist allerdings weniger stark ausgeprägt wie etwa bei der Caritas in der Poppelstraße. Dafür werden aktivierende Angebote gemacht. Singen, Gymnastik, Ausflüge gehören dazu. “Wir schauen, dass wir die Menschen weder überfordern noch unterfordern”, betont sie. Zudem dürfen die Bewohner auch Spannungen ausleben. Es gehöre dazu, dass es unter den Bewohnern Sympathie und Antipathie gibt. Das Betreuerteam sorgt dafür, dass sich die Situation nicht zuspitzt. Und wenn doch, so wäre es beispielsweise möglich, einen Bewohner in einer anderen Gruppe unterzubringen. Auch im Heim am Tillypark hat eine hohe Fachkraftquote ihren Preis. Die Höhe der Zuzahlung ist vergleichbar mit der in den ambulanten WGs ohne stationären Rahmen.
Verlust der Identität
Und die Angehörigen? Die müssen sich bei den mehr privat organisierten Wohngruppen deutlich stärker engagieren. Zu ihren Aufgaben gehört das Putzen des Zimmers ihres Angehörigen und auch andere Handreichungen. Im stationären Bereich ist das anders. Dort ist Mithilfe nicht nötig. Auch die Verantwortung für das Wohlergehen der alten Menschen tragen die Fachkräfte, vergleicht Koydl. Das könne für die Angehörigen entlastend sein. Denn “mit der Demenz verliert der Betroffene die Identität, aber die Persönlichkeit behält er”. Die Trauer über diese Entwicklung, die bei Familienmitgliedern oft die Pflege des Kranken begleitet, weicht in einer stationären Einrichtung einer freundlichen, aber professionellen Distanz der Fachkräfte. “Wir sind ein fröhliches Haus mit vielen Stimmungen”, hebt Koydl hervor. Doch für jeden sei diese Wohnform nicht geeignet. So dürfe ein Neuzugang nicht bettlägerig sein. Aber in allen Wohngruppen, ob ambulant oder stationär, werden die Bewohner bis zum Tod gepflegt.
Im Tillypark ist die Warteliste gut gefüllt. “Die Leute kommen immer später”, beobachtet die 47-jährige Leiterin. Denn Demenz-Patienten werden immer noch überwiegend zu Hause gepflegt. Jetzt ist eine weitere Einrichtung in Forchheim geplant. Sogar der Grundriss des Hauses am Tillypark wurde dabei übernommen.
Hannes Erhardt, Geschäftsführer des Evangelischen Siedlungswerks (ESW) in Nürnberg, bereitet einige neue Projekte vor, die nicht unbedingt für Demenzkranke geeignet sind. Am Tillypark betreibt das ESW gegenüber des Heims der Diakonie eine Einrichtung des Betreuten Wohnens. Angehörige von Bewohnern der Demenz-Gruppen leben zum Teil in dem Haus. “Das ist eine glückliche Konstellation”, findet Erhardt. Aber es sind vorwiegend Menschen “mit einem nicht gerade kleinen Geldbeutel”. Daher habe sich das ESW vorgenommen, für alte Menschen etwas zu tun, die über weniger als 900 Euro Rente im Monat verfügen. Diese hätten häufig große Probleme, geeigneten Wohnraum zu finden.
Zwei Projekte, eines in Fürth und eines in Nürnberg, hat der Manager im Blick. Es handelt sich um Einzimmerwohnungen, die wegen ihrer geringen Quadratmeterzahl ohnehin nicht so teuer sind. Zudem soll das ESW sie subventionieren. Erhardt bedauert, dass die Politik die Förderung zur Schaffung von altengerechtem Wohnraum stark zurückgefahren hat. Das ESW, das rund 2500 Wohnungen in der Metropolregion im Bestand hat, will etwa ein Drittel entsprechend umbauen. Erhardt setzt persönlich mehr auf Neubau-Wohnungen wie im “Finkenpark” in Fürth. Hier kooperiert er eng mit dem Seniorenrat der Stadt. Auf Wachstum stehen auch die Zeichen bei der Caritas. Eine zweite ambulante Wohngemeinschaft soll entstehen. Schließlich seien Demenz-Wohngemeinschaften ein Modell mit Zukunft, heißt es dort.
Petra Nossek-Bock
 

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