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Soll Engagement für Rentner Pflicht werden?

Der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Fratzscher fordert ein »verpflichtendes soziales Jahr für alle Rentnerinnen und Rentner«. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht eine schiefe Verteilung der gesellschaftlichen Lasten und fordert, »mehr Solidarität zwischen den Generationen zu schaffen«. Er attestiert den Älteren »zu viel Ignoranz, Selbstbezogenheit und Naivität«. Während eines verpflichtenden sozialen Jahres sollten sie sich seiner Meinung nach stärker gesellschaftlich engagieren und sich etwa in der Pflege oder bei der Bundeswehr einbringen, um die Lasten für Jüngere zu verringern. Auf dem Kieker hat er vor allem die »Boomer«, also die Jahrgänge von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er, die er für die demographische Entwicklung verantwortlich macht, weil sie zu wenig Kinder bekommen hätten. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) kritisierte den Vorstoß scharf. Vorsitzende Michaela Engel­meier verweist darauf, dass es sich viele Paare wegen der hohen Lebenshaltungskosten gar nicht leisten konnten, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Fratzschers Forderung bezeichnet sie als »respektlos«. Kritik kommt auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB): »Wer jahrzehntelang gearbeitet hat, hat seinen Ruhestand unbedingt verdient. Wir warnen davor, mit solchen Vorschlägen Generationen gegeneinander auszuspielen.«

Das Magazin sechs+sechzig hat vier Menschen aus der Region gefragt, die zu der betroffenen Altersklasse gehören oder nah dran sind, was sie von dem Vorschlag halten.

Christian Albert (53), Bäckermeister und stellvertretender Nürnberger Innungsobermeister:

Bäckermeister Christian Albert findet, dass sich Jung und Alt sozial engagieren sollen.

Christan Albert steht an sechs bis sieben Tagen die Woche nachts ab 1.30 Uhr auf, um Brot, Brötchen und anderes Gebäck vorzubereiten und zu backen – auch an Sonn- und Feiertagen. Verwaltung, Materialbestellung und Auslieferung an Hotels und Gaststätten eingeschlossen, arbeitet er mindestens 9,5 Stunden täglich. Nach seinen Berechnungen haben Bäcker das durchschnittliche Stundenpensum eines Beschäftigten bereits mit 49 Lebensjahren erreicht. Er würde dennoch »die Zähne zusammenbeißen« und sich nach seiner beruflichen Zeit noch gesellschaftlich engagieren. »Die frühere Generation der Bäcker hat das auch gemacht – wenn auch freiwillig. Sie haben im Bäckerchor gesungen, bei den Vorbereitungen von Brotmarkt, Brotverkostungen und Bäckerball geholfen.«

Albert findet, dass eigentlich alle ein verpflichtendes soziales Jahr machen sollten, »die Jungen und die Älteren«. Dann dürften bei den Senioren aber »nicht nur Rentner einbezogen werden, sondern auch Pensionäre«.

Der Bäckermeister hält es aber für schwierig, das gerecht umzusetzen. »Schließlich gibt es Leute, die ihr ganzes Leben lang etwa bei der Freiwilligen Feuerwehr aktiv sind. Kann oder soll man sie nach dem Berufsleben noch einmal verpflichten? Was ist mit den vielen, die körperlich gar nicht mehr in der Lage sind?« Marcel Fratzschers Forderung ist für ihn deshalb ein guter Gedanke, der aber nicht zu Ende gedacht ist. Außerdem fürchtet Albert, dass aus der Pflicht für ein Soziales Jahr schnell ein »bürokratischer Moloch« werden würde. »Und Bürokratie haben wir wirklich genug.«

Sabine Distler (60), Gerontologin aus Hartenstein und Gründerin des »Curatoriums Altern gestalten«, dessen Projekte mehrheitlich in Nürnberg stattfinden:

Gerontologin Sabine Distler hilft Senioren und Seniorinnen, sich ehrenamtlich neu zu finden.

Fratzschers Kritik an den Älteren und seine Forderung nach einem verpflichtenden sozialen Jahr seien eine Unverschämtheit, meint Sabine Distler. Beides zeige, dass er heutige Senioren und die »Boomer« gar nicht verstanden habe. »Man muss sie nicht verpflichten. Sie wollen sich aus eigenem Antrieb einbringen – ob in einem Ehrenamt, indem sie in ihrem Beruf weiterarbeiten, oder sich einer neuen Aufgabe zuwenden – etwa indem sie eine Initiative oder ein Unternehmen gründen.«

Gerade die Älteren hätten in ihrer beruflich aktiven Zeit bewiesen, dass sie – bei allem, was sie anpacken – sehr engagiert sind. »Als Ökonom sollte Fratzscher eigentlich wissen, dass sich seine Kritik auf eine Generation bezieht, »die über Jahrzehnte im Job sehr diszipliniert gearbeitet hat und auch ihre aktiven Jahre nach dem Erwerbsleben nutzen will.« Nicht umsonst sei bei ihnen der Anteil derer, die Vollzeit gearbeitet haben oder noch arbeiten, besonders hoch – »auch deutlich höher, als das bei vielen jüngeren Beschäftigten heute der Fall ist. Sie werden die nachberufliche Lebensphase nutzen, um nicht nur Kaffee zu trinken und eine Kreuzfahrt nach der anderen zu machen.«

Was die Älteren bräuchten, seien Ideen und Projekte, »denn manche fühlen sich in ihrem neuen Lebensabschnitt anfangs etwas verloren«. Das von Sabine Distler gegründete »Curatorium Altern gestalten« hat deshalb eine SeniorCLASS auf AEG in Nürnberg ins Leben gerufen. Bei dem Modellprojekt, das von der Europäischen Union gefördert wird, werden seit Mitte Oktober in einem ersten Durchgang 25 Neurentner über eine Zeit von neun Monaten begleitet. »Dieses kostenlose Orientierungsjahr soll helfen, sich in dem neuen Lebensabschnitt zurechtzufinden und Ideen zu entwickeln. Es geht um gesundheitliche Prävention, um Fähigkeiten und Talente, die sich für künftige Projekte nutzen lassen. »Manche entschließen sich, bei der Tafel mitzuarbeiten oder ein Praktikum bei einem Floristik-Betrieb zu machen. Es gibt viele Möglichkeiten, man muss nur das Richtige für sich finden.« In den neun Monaten entstehe so ein Netzwerk für Austausch, Ideen und Impulse, das sich künftig nutzen lasse. 

Andrea Geier (59), Krankenschwester, Praxisanleiterin und Ausbildungskoordinatorin bei der Caritas-Sozialstation Nürnberg-Süd:

Gesellschaftliches Engagement muss aus freien Stücken kommen, meint Altenpflegerin Andrea Geier.

»Mein erster Gedanke zu Marcel Fratzschers Forderung: Warum eine Pflicht?«, sagt Andrea Geier. »Es gibt ja jetzt schon so viele ältere Menschen, die sich freiwillig ehrenamtlich in den unterschiedlichsten Bereichen engagieren. Viele Initiativen und Vereine würden ohne sie gar nicht mehr funktionieren.« Ihr Schwiegervater, der Mitbegründer des Jazz-Clubs in Nürnberg ist, hält zum Beispiel heute noch, mit 93 Jahren, in der Altenakademie Vorträge über Jazz.

Andrea Geier glaubt aber, dass es durchaus noch mehr Bedarf an engagierten Älteren gibt. »Wir könnten in der ambulanten Altenpflege Leute mit Lebenserfahrung brauchen, die Senioren zum Arzt oder zu Behörden begleiten, sie im Alltag unterstützen oder sich Zeit nehmen für ein Gespräch. Die Schulabgänger, die ein soziales Jahr absolvieren, haben oft noch keinen Führerschein, um die Betroffenen zu begleiten.«

Sie hält es aber für wichtig, dass gesellschaftliches Engagement aus freien Stücken kommt. Es sei eine Aufgabe von Staat und Organisationen, dafür zu werben, dass sich Senioren und Seniorinnen einbringen. Viele Neurentner wüssten gar nicht, wo man anpacken kann. »Ihnen könnte man in Zeiten der Digitalisierung über ein Portal Wege aufzeigen, wo sie gebraucht werden.«

Grundsätzlich aber haben Menschen im Rentenalter ihrer Meinung nach ein Recht auf den Ruhestand. »Sie waren schließlich oft Jahrzehnte im Job eingespannt.« Sie selbst arbeitet seit 1984 in der Pflege. »Das ist ein schöner, aber auch anstrengender Beruf, bei dem man viel Verantwortung trägt.« Die Krankheitsrate sei hoch, dazu komme noch der Fachkräftemangel. Die Ausfallzeiten müssten ausgeglichen werden, da seien es oft die Teilzeitkräfte, die einsprängen. Dadurch häuften sich die Überstunden, die Erholungsphasen verkürzten sich.

»Viele Pflegekräfte arbeiten gar nicht bis zum regulären Rentenbeginn, weil sie das körperlich und psychisch nicht mehr schaffen oder sie unter diesen Rahmenbedingungen nicht länger arbeiten wollen.« Auch die 59-Jährige will früher aufhören. Nach über 40 Jahren im Job, in denen sie auch zwei Kinder großgezogen hat, möchte sie wieder mehr Zeit für sich haben. Doch sie kann sich gut vorstellen, sich eine neue Aufgabe zu suchen. »Aber bitte freiwillig.« 

Gerd Axmann (74), früher Betriebsrat bei Grundig und Gewerkschaftsfunktionär bei ÖTV und ver.di, heute Inhaber einer Galerie mit Foto-Atelier in Fürth:

Gewerkschafter Gerd Axmann hält Marcel Fratzschers Forderungen für »gefährlichen ­Populismus«.

»Ich habe in meiner Zeit als hauptamtlicher Funktionär mit Beschäftigten zu tun gehabt, die froh waren, wenn sie nach 40 oder 45 Jahren Erwerbstätigkeit ihren Rentenbeginn geschafft haben – viele von ihnen gingen wegen Erwerbsunfähigkeit auch früher. Der Grund waren gesundheitliche Einschränkungen.« Axmann verweist auf körperlich schwer arbeitende Menschen. »Ein Mann, der bei der Müllabfuhr über Jahrzehnte hinter einem Müllauto hergerannt ist, um die schweren Tonnen zum Fahrzeug zu bringen, ist körperlich kaputt.«

Der Fürther bezeichnet Fratzschers Forderung als gefährlichen Populismus. Sie habe mit der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen nichts zu tun. Bei vielen Beschäftigten wachse in letzter Zeit eher der Wunsch, weniger zu arbeiten als mehr und länger. Als Grund sieht er die zunehmende Arbeitsverdichtung in zahlreichen Branchen. »Die Beschäftigten sollen in immer kürzerer Zeit ein immer größeres Pensum schaffen – viele wünschen sich da mehr Freizeit, um die geistigen und körperlichen Belastungen auszugleichen. Sie sind dafür auch zu Lohn- und Gehaltseinbußen bereit.«

Fratzscher stößt seiner Meinung nach auch die Vielzahl von Älteren vor den Kopf, die sich als Rentner ohnehin in Vereinen und Organisationen engagieren, ihren Kindern helfen, indem sie die Enkel betreuen, oder die ihre Eltern gepflegt haben. »Das ist auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit.«

Axmann kennt Handwerker, die es sich gar nicht leisten können, in Rente zu gehen. »Sie müssen aus finanziellen Gründen weitermachen, solange es geht.« Er selbst widmet sich heute einer Aufgabe, für die er während seiner Berufstätigkeit keine Zeit gehabt hat. Er fotografiert seine Heimatstadt Fürth in allen Facetten und verkauft die Fotos in seiner vor einigen Jahren gegründeten Galerie als Postkarten, gerahmt, auf Leinwand oder auf Magneten. »Ich glaube, auch auf diese Weise kann ich der Gesellschaft etwas geben, wenn sich die Leute über die Bilder freuen.«

Text: Alexandra Voigt
Fotos: Michael MAtejka

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