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»Und immer lächeln!« heißt es beim Seniorenballett

Für die Silver Swans geht es vor allem um den Spaß. Aber Tanzen ist auch gut für Herz und Hirn.

Schritt, Schleif, Punkt … und durch die Arme gucken.« Und gleich nochmal: »5, 6, 7, 8!« Alle Anwesenden folgen der Stimme. Kollektive Schrittfolgen vor der raumhohen Spiegelwand, Tschaikowskis »Nussknacker« läuft vom Band. Spannung. Konzentration. Anstrengung. »Linker Arm in die Hüfte, der rechte öffnet«, kommt die Anweisung. »Und immer lächeln!« Die Gruppe, die an diesem Vormittag in Nürnberg zusammengekommen ist, gibt es erst seit einem Jahr. Doch das, was da gerade noch im geschlossenen Raum passiert, kann sich schon sehen lassen.

Wir sind zu Gast bei den Silver Swans – in ihrem natürlichen Habitat, sprich: ihrem Trainingsgelände, dem noch jungen »Hey Hilde«-Tanzstudio in der Nürnberger Südstadt. Lisa Dirkx hat ihre kleine Schule in der Singerstraße vor zwei Jahren eröffnet. Die 35-Jährige ist studierte Tanzpädagogin und hat zwischenzeitlich in London, New York und Antwerpen gelebt. Nun hat sie sich selbstständig gemacht und bietet Kurse für alle Altersklassen an. Nicht nur klassisches Ballett, sondern auch Yoga, Jazzdance, Modern Dance, spezielle Angebote für Kleinkinder sowie diverse Fitness-Klassen. Und eben die Silver Swans – die Silberschwäne: Eine Ballettklasse für Menschen ab 50.

Wo der Schwanensee kein Haifischbecken ist

Und da rattert es schon unvermittelt los, das Kopfkino der Klischees: Ballett für Senioren? Kein Mensch über 35 tanzt Ballett! Man denkt an Hochleistungssport und Hochkultur, große Kunst, hohen Anspruch, viel Schweiß, viele Tränen … und die Angst, sich übel zu verletzen. Und überhaupt, wie war das gleich noch in dem Oscar-prämierten Kinofilm »Black Swan«? Der Schwanensee ist doch in Wirklichkeit ein Haifischbecken!

Bei den Silver Swans im »Hey Hilde Studio für Tanz & Bewegung« sieht es aber gar nicht nach Hochleistungssport aus und auch nicht nach Seniorenkreis. Gestandene Frauen, das schon – aber zugleich auch ein kichernder Hühnerhaufen in jeder Verschnaufpause. Das dürfen wir hier schreiben, weil sie das selbst von sich sagen. Die zwölf Frauen, die sich hier jeden Mittwoch treffen, sind zwischen 58 und 74 Jahren alt – und tanzen Ballett. Weil sie es können. Weil sie Lust darauf haben. Und weil hier keine sich selbst oder den anderen etwas beweisen muss. Was nicht heißt, dass da kein Anspruch herrscht – gearbeitet wird auf ein Ziel hin, und das ist der erste öffentliche Auftritt im Sommer bei »Kunst im Dorf« in Oberhembach (Landkreis Neumarkt), wo ein Teil der Tänzerinnen wohnt und auch Tanzlehrerin Lisa aufgewachsen ist. »Sie merken schon: Wir machen das durchaus ernsthaft, aber immer mit Humor«, bringen es die Damen auf den Punkt.

Gewinn an Lebensqualität

Nicht alle im Raum sind Neulinge, manch eine hat schon vorher Ballett getanzt – in der Kindheit und dann ein paar Jahrzehnte lang nicht mehr. »Lisa hat den Kurs auf uns zugeschnitten«, sagen die Frauen. Dass hier und da ein künstliches Gelenk im Spiel ist – kein Problem. In allererster Linie geht es um den Spaß. Wer zudem unbedingt auch noch einen Mehrwert ableiten möchte, findet reichlich Stoff: Tanzen ist gut für Herz und Hirn, Kreislauf und Konzentration, Beweglichkeit und Balance. Es stärkt die Seele und die Muskelkraft und ist ganz generell ein Gewinn an Lebensqualität. Tatsächlich wurden die Kursteilnehmerinnen schon privat angesprochen: »Du hast in letzter Zeit so eine andere Haltung, eine andere Körperspannung.«

Es ist aber auch so, dass die Chemie in der Gruppe von Anfang an gestimmt hat. Kein Wunder, dass man die Silver Swans bisweilen auch abseits der Tanzstunden gemeinsam antrifft – etwa bei einem gemeinsamen Theaterbesuch. Ganz besonders hat die Gruppe eine Einladung ins Staatstheater gefreut, wo sie sich hinter den Kulissen umschauen und für eine Einheit den Probensaal des Opernhauses nutzen durfte. Sogar ein Meet&Greet mit dem scheidenden Ballettchef Goyo Montero vom Nürnberger Staatstheater bekamen die Frauen, der sie prompt zu seinem großen Abschiedsabend einlud. Seither herrscht nochmal eine andere Motivation und es gibt sogar eine andere Tanzchoreografie. Spricht man die Schwäne auf dieses Treffen an, so geraten sie sofort ins kollektive Schwärmen.

Viele fangen erst später an

Trotzdem: Wie ist denn das nun mit dem Alter? Ist Ballett nicht doch ein Junge-Menschen-Sport? Kann das funktionieren, wenn man wie die Silver Swans spät einsteigt und anfängt? Eine kurze Nachfrage bei dem bereits erwähnten Goyo Montero. Der sieht Ballett als eine Kunst- und Kommunikationsform, um sich selbst über Musik und den eigenen Körper auszudrücken. »Es ist eine sehr alte Technik, die einem die Möglichkeit gibt, seiner eigenen physischen, psychischen und musikalischen Form Ausdruck zu verleihen. Natürlich kann jeder Ballett, Tanz generell, bis zu seinem persönlichen körperlichen Limit betreiben. Wie in jedem Sport kann man diese Limits natürlich immer höher setzen, was aber nicht nötig ist.«

Was das (Einstiegs-) Alter angeht, gibt der langjährige Balletttänzer und international gefeierte Choreograph aus Madrid Entwarnung. »Wenn man jung anfängt, besteht die Möglichkeit, dass man seinen Körper noch entsprechend formen und anpassen kann. Ich persönlich kenne aber auch viele Menschen, die erst später mit dem Tanzen begonnen haben und großartige Karrieren starteten.«

Stichwort Altersgrenzen

Aber wie lange kann man Ballett professionell tanzen? Gibt es da nicht – vergleichbar mit dem Fußball – eine natürliche Altersgrenze? Das hat seiner Meinung nach etwas mit dem eigenen Körper zu tun und wie lange man sich fit hält. »Bei Männern würde ich sagen, bis 40 Jahre, 45 Jahre, wenn man Glück hat. Bei Frauen sieht es anders aus. Dadurch, dass sie weniger Hebefiguren stemmen müssen und weniger Sprünge tanzen, werden – also zumindest im klassischen Ballett – die Gelenke nicht so belastet.« Sein Vater habe getanzt, bis er 65 Jahre alt war. »Tanzen ist Bewegung mit Musik, es hält in jedem Alter fit. Aber natürlich tanzt man nicht mehr wie ein junger Mann.«

Jetzt ist das nächste Stichwort gefallen: Männer. Ein Thema bei den Silberschwänen in der Singerstraße – oder besser gesagt: keines. Denn dass die Tanzgruppe rein weiblich ist, war nie so gedacht oder geplant. Bislang hat nur noch kein Mann zu ihnen gefunden oder es gewagt oder das Universum einen in die Gruppe geworfen (je nach Sichtweise). Ein Grundproblem in dieser Disziplin: Auch in den anderen Erwachsenen-Klassen tanzt kein einziges männliches Exemplar, bei den Kindern und bei den Zwergen (ab 1,5 Jahren) vereinzelt. Warum tun sich Männer (vor allem in der Altersklasse Ü50) schwer mit Ballett? »Ich denke, das hat etwas mit Konventionen zu tun«, erklärt Goyo Montero. »Zum Glück verschwindet das immer mehr. Sobald Männer die ersten Versuche beim Ballett unternommen haben, haben die meisten Blut geleckt. Man merkt schnell, wie viel Energie man durch die Kombination von Musik, Konzentration und Bewegung bekommt.«

Hilde hat es knapp verpasst

Hey Oma! Die namensgebende Hilde war die Großmutter von Tanzlehrerin Lisa Dirkx.

Zurück in die Nürnberger Südstadt. Da ist noch die schöne Geschichte, die das markante Eckhaus in der Singerstraße erzählt. Denn die namensgebende Hilde, die gab es tatsächlich: Es war die Oma von Tanzlehrerin und Betreiberin Lisa, die hier ein Leben lang gelebt hat und um ein Haar noch den Start des nach ihr benannten Tanzstudios ihrer Enkelin miterlebt hätte. Das hätte ihr gefallen: Hilde war selbst Opernfan und begeisterte Tänzerin. Doch im Sommer 2022 – ein Jahr vor der Eröffnung – starb sie im Alter von 94 Jahren. Ein gerahmtes Foto, auf dem sie als Marilyn Monroe verkleidet ist, erinnert an die tanzbegeisterte Vorfahrin. Darauf ist Hilde so alt wie Lisa Dirkx heute.

Das Haus ist seit Generationen im Familienbesitz. Hier im Erdgeschoss hat der Uropa ab den 1920er Jahren eine Bäckerei betrieben, die dann im Weltkrieg zerbombt wurde. Danach war eine Laborhandelsfirma beheimatet, zuletzt standen die Räume mit den hohen Decken leer. Lisa baute im großen Stil um, riss Wände heraus, zog eine Spiegelwand ein, ließ einen professionellen Schwingboden samt Tanzteppich verlegen. So entstand im Haus von Oma Hilde auf 80 Quadratmetern ein kleiner, aber feiner langgestreckter Trainingsraum, dank Tageslicht frisch, hell und freundlich. Angeschlossen ist ein kleines Café, das während der Unterrichtseinheiten am Donnerstag und Freitag geöffnet hat.

Die Idee der Silver Swans kommt übrigens aus England, genauer gesagt von der Royal Academy of Dance mit Hauptsitz in London, einer privaten Einrichtung, die per Fernstudium ausbildet – weltweit, nach einheitlichen Standards. »Hey Hilde« ist der einzige lizenzierte Anbieter in und um Nürnberg.

Finale Frage an Goyo Montero: Hat der Nürnberger Ballettchef einen Profi-Tipp für Späteinsteiger? »Stretching, Stretching, Stretching – und viel Geduld mit sich selbst.«

Text: Stefan Gnad

Fotos: Michael Matejka

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