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Spielen zwischen und mit Trümmern erforderte nach dem Krieg viel Phantasie. Das zeigt die Schau im Nürnberger Spielzeugmuseum.
Spielen zwischen und mit Trümmern erforderte nach dem Krieg viel Phantasie. Das zeigt die Schau im Nürnberger Spielzeugmuseum.

Knut Grelle ist ganz in seinem Element. Der 74-Jährige erklärt auf Knien, von Schülerinnen und Schülern einer 2. Grundschulklasse umringt, seine kleine Stadt. Eine Stadt ganz aus Pappe, über einen Quadratmeter groß, schon 70 Jahre alt und für Kinder, wie sie heute aus Zirndorf gekommen sind, immer noch faszinierend.

von Herbert Fuehr

Sie hängen an Grelles Lippen, wenn er die Fotos von Gebäuden, Autos und Lokomotiven zeigt. Gleich daneben, in einer Glasvitrine am Boden, zu der man sich ganz tief herunterbücken muss, stehen die Originale: die kleine Stadt namens Langenbrücken mit Wohngebäuden, Kirche, Rathaus, Bahnhof und vielem mehr.

Wir sind im Nürnberger Spielzeugmuseum, in der Sonderausstellung »Notspielzeug«. Noch bis 1. Februar 2016 ist hier zu bestaunen, wie einfallsreich und geschickt Mütter, Väter und Verwandte in und um Nürnberg waren, wenn sie kurz vor Kriegsende und in der ersten Nachkriegszeit aus allem, was in den Trümmern zu finden war, Spielzeug bastelten.

Knut Grelle, der heute in Erlangen lebt, gehört ebenso wie Klaus Dornisch und Frank Knöchel zu den Bürgern, die Anfang des Jahres dem Aufruf von Museumsleiterin Karin Falkenberg gefolgt sind und für die Ausstellung Notspielzeug zur Verfügung stellten, mit dem sie selbst einst spielten. Alle drei haben uns ihre Geschichte erzählt – ein spannendes Stück erlebter Nachkriegs-Historie.

Grelle ist zwar in Berlin geboren, seine Spielzeugstadt entstand aber in Baden-Württemberg, in der Nähe von Bruchsal. Die Familie hatte 1943 im Zug der Evakuierungen in Berlin ins nordhessische Karlshafen an der Weser ziehen müssen. Der Vater wurde spät eingezogen und kam in Dänemark in englische Gefangenschaft. »Die Engländer waren am Wiederaufbau Deutschlands interessiert und suchten dafür Eisenbahner«, erzählt Grelle. »Mein Vater, der bei Siemens mit Signaltechnik zu tun hatte, meldete sich und bekam Arbeit in einem Siemens-Werk in Bruchsal.« Kurz darauf mussten Frau und Kinder Karlshafen verlassen und zogen in die Nähe des Vaters, nach Langenbrücken bei Bruchsal.

»Dort hat mein Vater angefangen, die Stadt zu basteln«, schildert der 74-Jährige. »Ich kann mich genau erinnern, wie er sich ans Fensterbrett setzte, sein Taschenmesser wetzte und dann zu schneiden und zu kleben anfing.« So entstand in Langenbrücken Haus um Haus für die Spielzeugstadt namens Langenbrücken, und alles ohne Plan. »Ich weiß nicht, woher er das hatte, aber alles hat bis ins kleinste Detail gestimmt«: Giebel, Fenster, Schaufenster, der Bahnhof samt Kohlelager und Wasserspeicher für die (selbstverständlich selbst gebastelten) Lokomotiven, Drehscheibe und Lokschuppen, ebenso der Schiffsanleger mit Gleisanschluss. »Meine ältere Schwester und ich haben intensiv damit gespielt«, erinnert sich Grelle, »wir lebten in unserer kleinen Welt, und damit auch alles stimmte, kam im Winter aus den Schornsteinen Rauch aus Watte.«

Die jüngere Schwester brachte die Begeisterung nicht mehr auf, ließ die Stadt links liegen, und irgendwann wurde dann alles verpackt und weggestellt. Grelles Enkel hätten zwar wieder ein Interesse an dem Spielzeug, »aber das darf jetzt niemand mehr anfassen«, betont der Opa. Schließlich sei das »nicht Kunst oder Krempel«, wie er in Anspielung auf die TV-Sendung sagt, »sondern ein Schatz«.

Ein solcher war für Klaus Dornisch eine ganz einfache Streichholzschachtel der Deutschen Zündwaren-Monopolgesellschaft von 1946. Aber was heißt schon einfach: Das Stück hat den längsten Namen aller Exponate: »Streichholzschachtelfaschingskrawattennadel«. Daneben ein Bild, das Dornisch als Kind zeigt, maskiert als Cowboy, dessen Halstuch von eben jener Schachtel zusammengehalten wird. Wer nicht genau hinschaut, könnte sie für echten Schmuck halten. Für den kleinen Klaus war sie das auf jeden Fall. »Meine Mutter hat sie entdeckt und mir geschenkt.«

»Verkleiden war eines meiner liebsten Spiele«, sagt er heute, »einmal war ich ein Mädchen, alle mussten Erika zu mir sagen.« Ansonsten war Dornischs Kinderzeit arm an Spielzeug und reich an anderen Erlebnissen: 1942 in Bamberg geboren, war er mit seiner Mutter ständig unterwegs – dorthin, wo keine Bombardierungen drohten. Nach Strullendorf; zur Tante nach Langenloh bei Waischenfeld, wo schon fünf andere Kinder aus der Fränkischen Schweiz untergebracht waren; in die Pulvermühle zu einem Onkel und nach Fürth zu einer anderen Schwester der Mutter. »Immer zu Fuß«, betont er, »manchmal hatten wir einen Leiterwagen für unsere Habseligkeiten.« Womit er und die anderen Kinder spielten, das waren Kastanien und Steine, allenfalls mal der Leiterwagen.

1946 wurde die Familie in Fürth sesshaft. Und da muss die Mutter wohl gedacht haben, dass ihr Klaus endlich ein richtiges Spielzeug braucht. Sie ließ bei einem Schreiner einen Osterhasen mit beweglichen Ohren und Läufen zusammenbauen – ein echtes Einzelstück. »Der Hase fehlt bei uns an keinem Osterfest«, betont Dornisch, »und immer stellen wir Ohren und Läufe anders.« Bis 1. Februar steht der 20 Zentimeter große Hase im Spielzeugmuseum und darf sich nicht rühren.

Zum Glück gab es Onkel Theo

Frank Knöchel hatten es als Kind größere Tiere angetan. Aus seiner Kindheit hat er einen Pferdestall samt Pferden (und zwei Knechten) gerettet und nun für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Außerdem noch eine Schiffsschaukel und einen Zirkuswagen. Er war noch kein Jahr alt, als seine Geburtsstadt Würzburg in der Bombennacht vom März 1945 fast völlig zerstört wurde. Seine Mutter suchte mit ihm Zuflucht bei ihrer Schwester in Solnhofen und wurde im alten Schulhaus einquartiert, wo schon die Lehrersfamilie wohnte. Der Lehrerssohn wurde sein bester Spielkamerad, und zu ihrem Glück gab es da auch noch Onkel Theo. Der baute Ende der 40-er Jahre die Spielsachen. »Stolz war ich auf den Pferdestall und den großen und den kleinen Knecht. Die Pferde ließen sich richtig anbinden und es gab einen kleinen Heuaufzug, mit dem wir unsere Bonbons transportierten.« Die Schiffsschaukel konstruierte Onkel Theo so, dass sie sich zerlegen und fast komplett im Zirkuswagen verstauen ließ. »Da haben wir sie in der einen Zimmerecke abgebaut, durchs Zimmer transportiert und in der anderen Ecke wieder aufgebaut. Und das ein paar Mal am Tag.« Ein Kasperltheater gehörte auch noch dazu, aber das ging irgendwann verloren.

Die Lehrersfamilie hatte auch noch Verwandte in den USA, die regelmäßig Carepakete schickten, in denen auch Spielsachen waren. Darin war auch Spielzeug, »kein Notspielzeug, nicht mit dem von Onkel Theo gebastelten zu vergleichen«, wie sich Frank Knöchel erinnert. Und es waren Bonbons drin mit einem unvergleichlichen Geschmack. »Als ich später einmal in New York in einen Jazzclub eingeladen war«, sagt Jazz-Fan Knöchel, »wurde zur Begrüßung ein Cocktail serviert, der Sirup mit dem gleichen Geschmack enthielt.« Sofort kamen wieder Erinnerungen an damals auf, an die Bonbons, den Pferdestall und seinen Heuaufzug. Aber woher der unvergleichliche Geschmack stammt, das hat Knöchel leider nicht gefragt.

Die Ausstellung »Notspielzeug – Die Phantasie der Nachkriegszeit« ist noch bis einschließlich 1. Februar 2016 im Spielzeugmuseum Nürnberg, Karlstraße 13–15, zu sehen. Geöffnet Dienstag bis Freitag 10–17 Uhr, Samstag und Sonntag 10–18 Uhr. Tel. 0911 2313164. Im Internet: www.museen.nuernberg.de/spielzeugmuseum

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