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Gestern war noch Kaffeefahrt angesagt, das Sitzen vor dem Fernseher und der Kuraufenthalt, heute gilt die »Explosion der Lebensqualität«, wie es Münchens früherer Oberbürgermeister Christian Ude einmal formulierte. Die jungen Alten sind mobil und oft genug noch für die Gesellschaft produktiv. Flotte 70er verreisen wie die Weltmeister oder hocken als Studenten in der Uni. Flotte 80er genießen den Rotwein am Abend oder tanzen fröhlich in die Nacht. Und flotte 100er steigen im Altenheim aus dem Fenster.

Saisonauftakt fürs Sportabzeichen Erlangen Foto: Bernd Böhner, NN-Archiv
Saisonauftakt fürs Sportabzeichen Erlangen
Foto: Bernd Böhner, NN-Archiv

Gestern war noch Kaffeefahrt angesagt, das Sitzen vor dem Fernseher und der Kuraufenthalt, heute gilt die »Explosion der Lebensqualität«, wie es Münchens früherer Oberbürgermeister Christian Ude einmal formulierte. Die jungen Alten sind mobil und oft genug noch für die Gesellschaft produktiv. Flotte 70er verreisen wie die Weltmeister oder hocken als Studenten in der Uni. Flotte 80er genießen den Rotwein am Abend oder tanzen fröhlich in die Nacht. Und flotte 100er steigen im Altenheim aus dem Fenster.
von Horst Mayer
Seit Jahrzehnten heizen die Medien die Diskussion über die alternde Generation in Deutschland an. Einerseits geht es um fitte, dynamische Senioren, die sich aufgrund finanzieller Unabhängigkeit ein ausgefülltes Leben gönnen, andererseits um alte Menschen, die in Heime abgeschoben, sozial isoliert und zweitklassig behandelt werden. Oder man schreibt über die 65- bis 70-Jährigen, deren Rente nicht ausreicht und die noch auf Jobsuche sind (derzeit rund 800 000). Über allen thront, als »Inkarnation« des erfolgreichen Alten schlechthin, der quietschfidele Operettenstar Jopie Heesters, der noch als 100-Jähriger täglich im eigenen Schwimmbad trainierte. Er starb 2011 mit 108 Jahren.
Oder es ist die Rede vom hyperaktiven Senioren-Vorzeigemodell, Bremens Ex-Bürgermeister Henning Scherf. Er klappert am Tag mindestens drei Termine in verschiedenen Städten ab, fährt Fahrrad, singt im Chor, schreibt und malt. Und warnt vor allem andere Ruheständler, nicht schon vormittags aufs TV-Programm zu warten. Es könnte der Eindruck entstehen: Als Rentner darf man keine Sekunde ruhen, dahinter lauert Verwahrlosung, Krankheit und Sterben. In diesem Reigen lästert die taz: »Der alternde Mann schluckt Potenzmittel, lässt sich Kalbshormone in den Hintern und das Hirn jagen, rasiert sich den Kopf, damit die grauen Haare nicht zu sehen sind, während sich die ›Golden Girls‹ in kurzen Röckchen zur Showtanzgruppe formieren.«
Wie sich das politisch-mediale Altersbild gewandelt hat, untersucht das Buch  »Leben im Ruhestand – die Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft«. Fünf Jahre lang beobachteten die Soziologen Stephan Lessenich und Sylke van Dyk von der Friedrich-Schiller-Universität Jena den demografischen Prozess. Sie analysierten Zeitungen und Zeitschriften von 1983 bis 2008, Partei- und Wahlprogramme sowie die Altenberichte der Bundesregierungen. Kernstück der Arbeit aber sind ausführliche Interviews mit 55 Ruheständlern der Jahrgänge 1938 bis 1950 aus Erlangen und Jena.
Der verdiente, womöglich passive Ruhestand sei vom neoliberalen Denken in Misskredit gebracht worden, stellen die Autoren fest. Denn die Gesellschaft und vor allem die Arbeitswelt haben sich geändert. Die Haltung »fordern und fördern«, die hinter der Hartz-Gesetzgebung stand, werde nun auch auf die Rentner übertragen. Auch sie müssten »gefördert« werden, dürften nicht passiv sein; man erwartet produktive Aktivitäten, Mobilität, Potenzial. Dazu sagt Soziologe Lessenich: »Die angeblich zu vielen Alten, die der Gesellschaft auf der Tasche liegen, sollen sich ihre Rente quasi noch mal verdienen – und zwar diesmal ehrenamtlich.«
Angesichts des demografischen Wandels setzt die Politik längst auf das Engagement der Alten. Die Ehrenämter der Senioren sind ein nicht zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. Das Allensbach-Institut hat ausgerechnet, dass Rentner in Deutschland 1,48 Milliarden Stunden pro Jahr ehrenamtlich arbeiten. Das entspricht der Arbeitsleistung von 870.000 Vollbeschäftigten. Bereits im Altenbericht 2006 der Bundesregierung steht: »Besonders der älteren Generation kommt eine zunehmend wichtige Rolle zu. Dieses Potenzial gilt es, für die Gesellschaft zu nutzen.«
Drastischer formuliert es der Populärphilosoph Richard David Precht, der 2011 ein verpflichtendes Soziales Jahr für Rentner forderte mit der Begründung: »Die Generation, die jetzt in Rente geht, die goldene, die eine beispiellose Wirtschaftsprogression erlebt hat und vom Krieg verschont wurde, muss in die Pflicht genommen werden.« Warum soll man da nicht auf den Gedanken kommen, dass die noch nicht »alten Alten« zur Bearbeitung der Folgen des demografischen Wandels etwas beitragen könnten?
Die in Erlangen befragten Ruheständler sind größtenteils der so genannten 68er-Generation zuzurechnen, die aus Jena gehören der »integrierten Generation« in der DDR an, die unter den Bedingungen des Aufbaus groß geworden ist. 30 der 55 Interviews wurden in Jena erhoben, 25 in Erlangen. 29 der gefragten Personen sind Frauen, 26 Männer. Dazu gehören Menschen ohne Schulabschluss und Ausbildung ebenso wie Promovierte; das Haushaltsnettoeinkommen reicht von rund 700 Euro im Monat bis etwa 4000 Euro. Die Interviews ergaben, dass mit 26 von 55 Befragten fast die Hälfte bereits ehrenamtlich tätig ist (16 Frauen, zehn Männer). Allerdings wurde die Haltung »Ich schulde dem Staat nichts« nur unter Ostdeutschen gefunden. Nach Ansicht der Interviewer zeigen Ostdeutsche eine stärkere Nähe zum Sozialstaat, eine kapitalismuskritische Haltung, eine schärfere Wahrnehmung des Neoliberalismus, »der den so genannten Staat abbaut«. In vielen anderen Bereichen stellten sie keine Ost-West-Unterschiede fest.
Insgesamt ziehen die Verfasser eine ernüchternde Bilanz. Trotz aller Bereicherung des Altwerdens sehe die Zukunft anders aus, als es die politischen Kampagnen und großformatigen Plakate (»Zähl Taten, nicht Falten«) der Bundesregierung verheißen. Mit der Absenkung des Leistungsniveaus der gesetzlichen Rente um 20 Prozent bis zum Jahr 2030 sowie der Teilprivatisierung der Altersvorsorge sei ein deutlicher Anstieg von Altersarmut vorprogrammiert. Es gehe nur um die Aufwertung der leistungsfähigen, gesunden, jungen Alten. Die Hochaltrigen und Pflegebedürftigen würden eher stärker als unproduktiv und kostenträchtig diskreditiert. Die Altersfeindlichkeit der Gesellschaft dränge diese Menschen an den äußersten Rand – eine ungute Entwicklung.
Fazit: Ein hochinnovatives Buch, das in der Politik und unter Soziologen sicher großes Interesse finden wird. Komplizierte Sachverhalte einfach zu formulieren, scheint in der heutigen Zeit kaum mehr möglich zu sein. Denn das Werk der Professoren aus Jena ist gespickt mit Fremdwörtern und Fachausdrücken. Das bedeutet wiederum, dass der Leser, den es eigentlich betrifft – der normale Ruheständler – sich damit bestimmt nicht befasst. Vielleicht blättert er den Band mal durch.
Alle Zitate aus unten genanntem Buch „Leben im Ruhestand: Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft“, transcript-Verlag Bielefeld, 457 Seiten, 29.99 Euro, als E-Book 26.99 Euro

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