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Agnes Herberth legt auch mit 94 Jahren die Wanderstöcke noch nicht aus der Hand. Foto: Mile Cindric
Agnes Herberth legt auch mit 94 Jahren die Wanderstöcke noch nicht aus der Hand. Foto: Mile Cindric

Agnes Herberth schaut zufrieden aus dem Fenster ihrer Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses am Rande der Goldschlägerstadt. »Von hier oben liegt mir Schwabach zu Füßen.« Wenn Agnes Herberth strahlt – und das tut sie bei solchen Sätzen – zeigt ihr würdevolles Gesicht noch mehr feine Falten. Die Frau ist 94 Jahre alt, sportlich-drahtig, die Bewegungen geschmeidig und genau.
An den Wohnzimmerwänden hängen acht Urkunden, die allesamt eines dokumentieren: Wandern ist ihre Leidenschaft, ihre Lust, mit der sie es zu einiger Professionalität gebracht hat. Bis zu ihrem 87. Lebensjahr war Agnes Herberth als Wanderführerin des Fränkischen Albvereins im Einsatz. »Heute, mit 94, bin ich in Rente«, lächelt die vielfach Geehrte verschmitzt. Und hofft doch, dass sie in diesem Jahr die goldene Ehrennadel ihres Lieblingsvereins verliehen bekommt. Die anderen hat sie alle schon.
Treues Mitglied
Tatsächlich ist der Verein stolz, ein so treues, engagiertes und fittes Mitglied zu haben, das seit 26 Jahren aktiv dabei ist. »So möchten wir alle gern 94 werden!«, wünscht sich Ruth Ghobarkar vom Fränkischen Albverein, Ortsgruppe Nürnberg. Sie erzählt, dass Agnes Herberth manchmal noch einspringt, wenn Not am Mann oder an der Frau ist. Wie letztes Jahr. Bei einer Wanderung hat sie einen Teil der Gruppe über das markante Walberla in der Fränkischen Schweiz geführt, während der Rest der Gemeinschaft nur um den Berg herum gewandert ist.
Agnes Herberth selbst neigt nicht dazu, sich mit ihrer geistigen und körperlichen Fitness zu brüsten. Natürlich reichen die Kräfte nicht mehr so weit wie früher. Zwölf statt 20 Kilometer pro Wanderung genügen, zudem geht sie langsamer als einst. Auch die zweimal gebrochene Hand behindert sie. Gegen das Schwindelgefühl hat ihr der Neurologe eine überraschende Gymnastik verordnet: Jeden Morgen 40 Minuten Übungen, begleitet von gleichzeitigem Zählen bis 100 – in, man staune, zehn Sprachen. Das hilft, sagt sie. Zusätzlich zu den zwei wöchentlichen Wanderungen fährt sie montags zum Schwimmen nach Treuchtlingen und einmal zu einer Gymnastikgruppe. Umgekehrt ausgedrückt: Nur dienstags und donnerstags hat sie keine festen Termine.
Vielleicht ist das ihr Rezept gegen Altersmüdigkeit. Oder die Angewohnheit, mit der Sonne früh aufzustehen und sich mit ihr niederzulegen. Zugleich positiv zu denken und an jedem neuen Tag »Danke« zu sagen.
Schwieriger Neubeginn
Dabei fiel ihr der Neubeginn in Schwabach alles andere als leicht, damals als 68-jährige Rentnerin, von Frankfurt am Main kommend. Tochter und Schwiegersohn in Nürnberg-Katzwang arbeiteten unter der Woche, sie selbst hatte keine Arbeitskollegen oder andere Kontakte. »Ich fühlte mich total fremd, wusste weder, was Radler noch Karpfen bedeutet«, erinnert sich die gebürtige Siebenbürger-Sächsin. Der Fränkische Albverein verhieß Rettung. Die erste Route führte von Nürnberg-Schweinau nach Zirndorf-Anwanden im Kreis Fürth. »Ich hatte gleich das Gefühl: Du gehörst dazu.« Und es dauerte nicht lange, bis der Wanderwart sie als Führerin anheuerte; die Premiere führte sie von Weißenburg in den zur großen Kreisstadt gehörenden Ortsteil Oberhochstatt und zurück. Im Nachhinein bereut sie den Umzug nach Schwabach nicht. »Nach all den Jahren bin ich sehr gut integriert. Aber wer wird schon 94?«
Dabei war Agnes Herberth in ihrem Leben nicht auf Rosen gebettet. Der schmerzlichste Moment: Im Januar 1945 musste sie ihre drei Kinder, das jüngste zwei Jahre alt, allein in Siebenbürgen zurücklassen. Als die Russen sie aus der Wohnung abholten und zur Schule führten, glaubte sie, zwei Stunden später wieder bei ihren Kleinen zu sein. »Aus den zwei Stunden wurden fünf Jahre.« Vor der Verschleppung nach Russland konnte sie gerade noch einer alten Frau mit Milchkanne in der Hand aus ihrem Dorf bei Hermannstadt zuflüstern, jemand möge sich um die Kinder kümmern.
Zurück von der Zwangsarbeit und wieder bei ihren Kindern, wartete sie 20 Jahre, bis die rumänischen Behörden ihren Reisepass herausrückten. Unter dem Vorwand, nur ihre Schwester in Rothenburg besuchen zu wollen, löste sie mit dem letzten Geld, das sie besaß, ein One-Way-Ticket nach Deutschland. Ihre Kinder kamen nach. Vier Enkel und zwei Urenkel zählt die Familie heute, mit der sie Reisen von der Antarktis bis Amerika und Südafrika unternommen hat. In diesem Frühjahr ist sie wieder in die alte Heimat in Rumänien geflogen, doch jetzt will sie es gut sein lassen. Zu anstrengend, diese Fliegerei, meint sie.
Will sie das Jahrhundert voll machen? »Erst einmal will ich die 95 schaffen«, antwortet die Betagte. »Sollte ich 100 Jahre alt werden, lade ich die Wandergruppe nach Wildbad bei Rothenburg zum Kaffee ein.« Versprochen ist versprochen.
Angela Giese

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