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Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwege und sein neues Buch zur Altersarmut. Foto: Homepage Butterwegge

Interview mit dem Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge, Universität Köln.
 In den 50er Jahren waren viele BürgerInnen arm, auch die älteren. Danach gab es mehr als 50 Jahre keine Altersarmut. Warum taucht dieses Problem in den letzten zehn Jahren in der Öffentlichkeit (wieder) auf?
Butterwegge: Dafür gibt es meines Erachtens. zwei Hauptursachen: die Deformation des Sozialstaates im Allgemeinen sowie die Demontage der Gesetzlichen Rentenversicherung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes im Besonderen. Genannt seien in diesem Zusammenhang nur die Lockerung des Kündigungsschutzes, die Einführung von Mini- bzw. Midijobs, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sowie die Liberalisierung der Leiharbeit. Nicht bloß die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch die Teilprivatisierung der Altersvorsorge machen sich negativ bemerkbar. Durch die mit den Namen von Walter Riester und Bert Rürup verbundenen Rentenreformen wird das Alterssicherungsniveau vor Steuern von 53 Prozent um die Jahrtausendwende schrittweise auf 43 Prozent im Jahr 2030 abgesenkt. Gerade die Geringverdienerinnen und Geringverdiener können sich keine Zusatzvorsorge für das Alter leisten, die zudem den Risiken der Kapitalmärkte unterliegt und in erster Linie die Renten von Versicherungsvertretern und Finanzdienstleistern sichert.
 
In vielen Veröffentlichungen wird die Alterungen der Gesellschaft für die demnächst wachsende Altersarmut mit verantwortlich gemacht. Warum wird die Senkung des Rentenniveaus – und damit auch mögliche Altersarmut – als Mythos bezeichnet?
 
Butterwegge: Alle seriösen Berechnungen zeigen, dass sich die Folgen des demografischen Wandels für die Gesetzliche Rentenversicherung in Grenzen halten. Die Höhe der Rente ist schließlich keine Frage der Biologie – „Wie alt ist die Bevölkerung?“ –, sondern eine Frage der Ökonomie – „Wie groß ist der erwirtschaftete Reichtum?“ und eine Frage der Politik: „Wie und auf wen wird der gesellschaftliche Reichtum verteilt?“
Die Versuche, die geringeren Alterseinkünfte in der Zukunft auszugleichen reichen von der Riester- über die Zuschuss- und die Lebensleistungs- bis zur Solidarrente. Warum reichen diese Ansätze nicht aus, Altersarmut zu verringern?
Butterwegge: Bei der Riester-Rente sind die Risiken der Kapitalmärkte und die Tatsache zu bedenken, dass gerade Geringverdienerinnen und Geringverdiener solche Verträge selten abschließen, weil sie mit ihrem Lohn kaum über die Runden kommen. Zuschuss-, Lebensleistungs- und Solidarrente helfen den Bestandsrentnern nicht. Aber auch künftige Rentner – vor allem Rentnerinnen – dürften an den viel zu hohen Zugangshürden scheitern. Wer hat angesichts von Erwerbsunterbrechungen sowie von sich häufender Mehrfach- und Dauerarbeitslosigkeit schon 30, 35 oder 40 Jahre lang Beiträge gezahlt? Selbst wenn man in den Genuss der in Aussicht gestellten Rentenzuschüsse gelangt, reichen 850 Euro zumindest in einer Großstadt wie Hamburg oder München kaum aus, um der Altersarmut zu entgehen.
Welche Rolle spielt die Finanz- und Versicherungsindustrie bei der Debatte um die Renten?
Butterwegge: Auf den Entstehungsprozess der Riester-Rente haben Privatversicherer, Banken und Finanzdienstleister massiv Einfluss genommen. Es ging der rot-grünen Koalition bei dieser Reform nicht darum, Armut im Alter zu bekämpfen, sie wollte dem genannten Wirtschaftszweig vielmehr ein neues Geschäftsfeld zu eröffnen. Zu verdienen gab es fette Profite und Provisionen, die der Staat mit Steuergeldern in Höhe von 12 Milliarden Euro subventioniert hat. Der AWD-Gründer Carsten Maschmeyer vergleicht die Riester-Rente denn auch gern mit einer „sprudelnden Ölquelle“, die seine Branche nur anzuzapfen brauchte.
Bisher war die staatlich subventionierte Privatvorsorge à la Riester freiwillig. Da eine der Voraussetzungen für den Bezug der Zuschuss- wie der Lebensleistungsrente das Jahre-, später sogar das jahrzehntelange „Riestern“ ist, lässt sich diese als weiteres Förderprogramm für die Versicherungswirtschaft bezeichnen. Denn zumindest für Geringverdiener/innen würde die private Vorsorge nahezu obligatorisch.
Welche Wege schlagen Sie und Ihre AutorInnen vor, Alterarmut zu bekämpfen?
 Butterwegge: Die sog. Dämpfungsfaktoren (Riester-Treppe, Nachhaltigkeits- und Nachholfaktor) müssen wieder aus der Rentenanpassungsformel entfernt werden, um das Alterssicherungsniveau zu stabilisieren. Da die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre auch nur eine verkappte Rentenkürzung darstellt, die Menschen mit gesundheitlichen oder beruflichen Problemen zwingt, vorzeitig mit Abschlägen in den Ruhestand zu gehen, muss auch die „Rente mit 67“ rückgängig gemacht werden.
Nur wenn der Lebensstandard aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhestand halbwegs gewahrt bleibt, kann Altersarmut für Niedrigeinkommensbezieher verhindert werden. Dies wäre am ehesten durch Weiterentwicklung der Renten- zu einer solidarischen Bürgerversicherung zu verhindern, in die alle einzahlen – auch Freiberufler, Selbstständige, Beamte, Abgeordnete und Minister –, in der auf alle Einkommen – auch Miet-, Pacht- und Kapitalerlöse – Beiträge entrichtet werden müssen und in der es keine oder eine sehr hohe Beitragsbemessungsgrenze gibt.
 
Interview: Rainer Büschel
 Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach, Matthias W. Birkwald (Hg.)
Armut im Alter
Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung
2012, kart., ca. 280 Seiten; D 19,90 € / A 20,50 € / CH 28,90 Fr.*
ISBN 978-3-593-39752-8
Auch als E-Book erhältlich.
Zusammenfassung:
Die Themen Rente und Altersarmut sorgen derzeit für hitzige sozialpolitische Debatten. In dem von Christoph Butterwegge, Gerd Bosbach und Matthias W. Birkwald herausgegebenen Band geben Expertinnen und Experten jetzt erstmals einen umfassenden Überblick über die aktuellen Risiken, Erscheinungsformen und Ursachen von Altersarmut in Deutschland. Dabei wird klar: Die aktuellen Reformansätze wie Ursula von der Leyens »Zuschussrente« oder die »Solidarrente« der SPD bilden keine sinnvolle Alternative zu einer gesetzlichen Rente, die den Lebensstandard im Alter sichert und Armut verhindert.
Die dramatische soziale Lage vieler älterer Menschen ist schon jetzt so offenkundig trotz oder wegen der sog. Zusatzrente oder des Reichtums- und Armutsberichts –, dass etablierte Parteien, Massenmedien und Wissenschaftler zu ihrer Rechtfertigung meist auf die demografische Entwicklung verweisen.
Gegen diese populäre Erklärung führen die Herausgeber, Autorinnen und Autoren des Bandes den Nachweis: Die drohende Verarmung von Millionen älteren Menschen in Deutsch-and ist vor allem auf sinkende Reallöhne, den expansiven Niedriglohnsektor, entsprechende Reformen des Arbeitsmarktes und eine falsche Rentenpolitik (Riester-Reform, Aussetzung der jährlichen Rentenanpassung, Beendigung der Beitragszahlungen für Langzeitarbeitslose usw.) zurückzuführen. Das für den Sozialstaat grundlegende Prinzip der Lebensstandard-sicherung in der Rentenversicherung wurde aufgegeben. Altersarmut ist kein demogra-fisches, sondern ein politisch erzeugtes Problem. Absehbare Folgen sind eine noch stärkere Polarisierung der Gesellschaft in Arm und Reich sowie eine „Reseniorisierung“ der Armut.
Die Autorinnen und Autoren diskutieren die aktuellen sozialpolitischen Reformansätze der Parteien und machen fundierte Vorschläge, wie man Altersarmut gezielt entgegenwirken und eine gerechte und solidarische Alterssicherung gewährleisten kann.
Mit Beiträgen unter anderem von Gerhard Bäcker, Adolf Bauer, Annelie Buntenbach, Ernst Kistler, Winfried Schmähl, Ottmar Schreiner und Alfred Spieler.
Die Herausgeber
Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik sowie Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der FH Koblenz. Matthias W. Birkwald MdB ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
 Aus dem Inhalt:
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I Altersarmut gestern, heute und morgen
Die Entwicklung des Sozialstaates, Reformen
der Alterssicherung und die (Re-)Seniorisierung der Armut . . . . . . . . . . 13
Christoph Butterwegge
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Gesetzlichen
Rentenversicherung: Verhinderung von Armut im Alter? . . . . . . . . . . . . 42
Winfried Schmähl
Altersarmut und Rentenreformvorschläge:
Fallstricke einer einseitigen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Gerhard Bäcker
Armut im Alter – ein Problem von gestern? Zur ideologischen
Entsorgung der wachsenden sozialen Ungleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Otker Bujard
II Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen
der Altersarmut
Der Arbeitsmarkt als Armutsfalle
Sind die Beschäftigten von heute die Altersarmen von morgen? . . . . . . . 95
Jutta Schmitz
6 Armut im Alter
Altersarmut ist überwiegend weiblich
Frauen als Hauptleidtragende des Sozialabbaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Carolin Butterwegge und Dirk Hansen
Die Entwicklung der Alterseinkünfte in Ostdeutschland:
Wende zum Besseren oder Wende zur Armut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Alfred Spieler
Gesundheitliche Ungleichheit im Alter – ein Armutszeugnis . . . . . . . . . 144
Antje Richter-Kornweitz
III Demografischer Wandel, »Generationengerechtigkeit«
und Teilprivatisierung der Altersvorsorge
Altersarmut und Methusalem-Lüge
Wie die Senkung des Rentenniveaus mit demografischen
Mythen begründet wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Ernst Kistler und Falko Trischler
Altersarmut in einem reichen Land
Zur Logik eines scheinbaren Widerspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff
»Generationengerecht« in die Altersarmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Daniel Kreutz
Rentenpolitik unter Druck
Einflussnahme und Lobbying der Finanzbranche am Beispiel
der Riester-Rente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Diana Wehlau
Inhalt 7
IV Zivilgesellschaftliche Positionen und Aktivitäten
gegen Altersarmut
Soziale Sicherheit im Alter – eine Frage der Solidarität! . . . . . . . . . . . . . 227
Annelie Buntenbach
Der Neue Generationenvertrag als Grundlage einer
solidarischen Alterssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Hans-Jürgen Urban und Axel Gerntke
Die Gesetzliche Renten- zur Erwerbstätigenversicherung

 

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