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Zum Lesen lernen ist man nie zu alt

Das Bildungszentrum Nürnberg bietet Kurse für Analphabeten - auch für Ältere - an. Die 55-jährige Diplom-Pädagogin Gabriele Paulus setzt dabei auf moderne Lernmittel wie den Computer, aber auch auf althergebrachte Hilfsmittel wie Karteikarten.


Gabriele Paulus (rechts) übt mit den erwachsenen Kursteilnehmern, Wörter zu bilden. Foto: Roland Fengler
Gabriele Paulus (rechts) übt mit den erwachsenen Kursteilnehmern, Wörter zu bilden. Foto: Roland Fengler

Man braucht viel Mut, um endlich den ersten Schritt zu tun. Das bestätigt auch Anna (Name von der Redaktion geändert). Die 53-Jährige ist eine der wenigen im Kurs des Nürnberger Bildungszentrums (BZ), die sich überhaupt traut, über ihre Situation zu sprechen. Die meisten anderen Erwachsenen schweigen vor Scham. Denn wer in Deutschland nicht lesen und schreiben kann, wird schief angesehen. Die türkischstämmige Anna träumt davon, einmal einen Mietvertrag selbst lesen zu können. Als Mutter von drei Kindern versucht sie, ihre im Kurs neu erworbenen Kenntnisse gleich in die Praxis umzusetzen. Mit großem Eifer reiht sie Silben und Buchstaben aneinander und macht ihre Hausaufgaben.
So weit unterscheidet sich eine Unterrichtsstunde für reife Schüler kaum von einer in der Grundschule. Doch Ursula Brock weiß, dass man spezielle Lernmittel und viel Geduld benötigt, um die Teilnehmer langfristig bei der Stange zu halten. Brock ist Leiterin der Alpha-Werkstätten im Bildungszentrum. Die promovierte Völkerkundlerin kümmert sich seit drei Jahren um Menschen, die nur mühsam oder gar nicht schreiben können.
In Nürnberg bietet die Einrichtung der Erwachsenenbildung fünf Kurse in kleinen Gruppen an. Die 55-jährige Diplom-Pädagogin Gabriele Paulus setzt auf moderne Lernmittel wie den Computer, aber auch auf althergebrachte Hilfsmittel wie Karteikarten. Sie hat sich selber fortgebildet, bevor sie in die Erwachsenenarbeit einstieg und nun spezielle Angebote in der Alpha-Werkstatt offeriert. Ihre Kollegin Grazia Groß hat Deutsch als Zweitsprache studiert und kümmert sich vor allem um Teilnehmer mit Migrationshintergrund.
chule
Anna ist eine ihrer Musterschülerinnen. Die lebhafte Frau kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Zunächst lebte sie in Hamburg. »Damals gab es keine strengen Kontrollen wie heute«, erinnert sie sich. Deswegen sei es nicht weiter aufgefallen, dass sie, anstatt zur Schule zu gehen, ihre Geschwister großzog. Später dann in Nürnberg lernte sie, sich so durchzuschlagen. »Die Unterschrift habe ich mir selber beigebracht«, berichtet sie. Für ihre Arbeit am Fließband, in einer Großküche oder in der Lebkuchenproduktion musste sie nicht viel schreiben.
»Ich habe mir alle Arbeiten selber gesucht«, sagt sie stolz. Doch irgendwann klappte das nicht mehr. Sie wurde arbeitslos und schließlich von der gemeinnützigen Nürnberger Beschäftigungsgesellschaft Noris-Arbeit (NOA) betreut. Dort fiel auf, dass sie Analphabetin ist, und man schickte sie zur Förderung in den BZ-Kurs.
In Deutschland geht man von etwa vier Millionen Analphabeten aus. Die meisten gehören zur Gruppe der »funktionalen Analphabeten«. Darunter fallen Menschen, die trotz Schulbesuchs nicht richtig lesen und schreiben können. Diejenigen, die beides nie gelernt haben, sind eher eine Minderheit. »In den 50-er Jahren gab es verschiedene Bevölkerungsgruppen, die kaum zur Schule gingen«, ergänzt Werkstattleiterin Ursula Brock. Sinti und Roma gehörten dazu, aber auch Schausteller, die keine eigenen Lehrer hatten, und vor allem Frauen, die in ländlichen Verhältnissen aufwuchsen und schnell als Arbeitskraft gebraucht wurden. Viele von ihnen sind heute um die 60 Jahre alt. Gerade Frauen wollten nun noch einmal durchstarten, wenn die Kinder aus dem Haus sind, manchmal auch der Mann nicht mehr da ist, wissen die beiden Kursleiterinnen Paulus und Groß.
Für manche ist es ein Akt, um mehr Selbstbewusstsein zu erhalten. »Ich tue etwas für mich«, sagt auch Anna. Sie möchte mit ihrem Beispiel andere in einer ähnlichen Situation ermuntern, in den Kurs zu kommen. Ihr fällt es leicht, Wörter zu erkennen und sich zu merken. Sie übt fleißig und lobt das Programm in den höchsten Tönen: »Es gibt hier keinen Druck, keine Noten und niemand lacht einen aus.«
Petra Nossek-Bock
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Information
Alpha-Werkstätten am Bildungszentrum Nürnberg, Information und Beratung:
Dr. Ursula Brock, Telefon 0911 / 231-74 55, Fax 0911 / 231-5497,
E-Mail: ursula.brock@stadt.nuernberg.de
Doris Koller, Telefon 0911 / 231-69 60,
Fax: 0911 / 231-54 97,
E-Mail: doris.koller@stadt.nuernberg.de
Oder: www.zweite-chance-online.de – unter dem Stichwort Alphabetisierung finden sich Informationen des Deutschen Volkshochschulverbandes.

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