Es klingt trivial, wie Jörg Krämer an seine Rolle fürs Leben kam: »Die Stelle als Erster Flötist war frei, und ich habe das Probespiel gewonnen.« Das war 1986, seitdem spielt der gebürtige Erlanger die führende Querflöte bei der Staatsphilharmonie Nürnberg. Woanders muss sich der begabte Nachwuchs langsam hocharbeiten – nicht so bei Orchestern. Krämer landete gleich einen Volltreffer, noch bevor er wenig später das Meisterklassenexamen an der Münchner Musikhochschule mit Auszeichnung absolvierte. Anders als bei Schauspielern lockt im Staatsorchester eine Anstellung auf Lebenszeit. Der Nachteil: »Ab einem Alter von 35 Jahren wird es für Orchestermusiker schwierig, sich zu verändern«, sagt der heute 62-Jährige.
Und als reichte es nicht aus, als Berufsmusiker häufig auf der Bühne zu stehen, daneben zu Hause und im Opernhaus zu proben, schuf sich Krämer ein zweites berufliches Standbein – in seiner zweiten Herzenssache. In Erlangen forscht und lehrt er als außerplanmäßiger Germanistikprofessor für Literaturwissenschaft. In seinem aktuellen Hauptseminar geht es um Hugo von Hofmannsthal und dessen Auseinandersetzung mit der Wiener Moderne um 1900.
Die Partitur im Kopf
In den 37 Jahren seines Engagements bei den Philharmonikern hat Krämer etliche Generalmusikdirektoren kommen und gehen sehen. Der Abschied von Joana Mallwitz gehört für ihn zu den traurigen Veränderungen, es sei ein echter Verlust. »Es gibt auch unter Dirigenten Schaumschläger und solche, die einem Orchester hinterherdirigieren. Joana Mallwitz jedoch hat direkt bei der ersten Probe die Partitur voll im Kopf. Sie leistet hervorragende Arbeit, weiß genau, wo die Problemstellen liegen.« Das Publikum liebe sie wegen ihrer Hingabe, Energie und ihres Temperaments und wohl auch deshalb, weil es ihr wirklich um die Musik gehe, nicht um die eigene Person.
Und um das Miteinander. »Die Zuhörer spüren die Energie, wenn das ganze Orchester genau weiß, wo es hingeht. Das Zusammenspiel muss dem Ganzen nutzen, da ist kein Platz für Primadonnen. Und ja, die Person am Pult lenkt das Ganze in eine kreative Richtung, das wird nicht demokratisch ausdiskutiert.« Vom Komponisten Robert Schumann stammt der Satz: »Wenn alle die erste Geige spielen wollen, kommt kein Orchester zusammen.«
Plädoyer für zeitgemäßes Haus der Musik
Als die Philharmoniker Mitte Oktober 2022 das 100. Jahr ihres Bestehens feierten, hielt auch Jörg Krämer eine Ansprache. Er bedauerte die Entscheidung des Stadtrats vom November 2020, den Bau eines Konzertsaals nach fünfjähriger Planung auf Eis zu legen. Und sprach von seiner Hoffnung, dass die Stadt erkennen möge, wie ungeheuer bedeutend für eine Halbmillionenstadt wie Nürnberg ein zeitgemäßes Haus der Musik ist.
Einen dringlichen Appell hatte schon Richard Strauss 1913 lanciert, indem er nach der Aufführung seines Rosenkavaliers schrieb, einem derart schlechten Orchester sei er außer in Nürnberg nur einmal in seinem Leben begegnet, nämlich in Lemberg. Mit dieser miserablen Note verfolgte er aber insgeheim das Ziel, die Stadt möge sich des verarmten Theaters und des unterbesetzten und schlecht bezahlten Orchesters annehmen. Die gute Absicht fruchtete: 1922 übernahm die Kommune unter Oberbürgermeister Hermann Luppe das Ensemble. Wie sehr die damit verbundene bessere Ausstattung auch den Philharmonikern zugute kam, lässt sich in dem Werk »Staatsphilharmonie Nürnberg. 100 Jahre Kulturgeschichte eines Orchesters« nachlesen, das im Jubiläumsjahr 2022 erschienen ist. Die Autoren sind Jörg Krämer, Martin Rempe und Georg Holzer. Dabei reicht die Tradition des Orchesters viel länger zurück, nämlich bis 1377, wenngleich unter anderen Namen.
Nürnbergs bewegte Kulturgeschichte mit Phasen großer Freiheit und schlimmen Elends fesselt den Wissenschaftler Krämer weiterhin, er freut sich schon auf die Zeit als Pensionär, wenn er ohne Druck und Termin in zurückliegende Jahrhunderte eintauchen kann. Ganz wichtig ist ihm die persönliche Freiheit, dann wie andere auch an Festtagen wie Ostern, Pfingsten oder Weihnachten verreisen zu können, an denen er jetzt noch für Auftritte gebraucht wird. Doch die nächsten drei Jahre wird der Flötist noch gebunden sein und nur zwischen Ende Juli und Anfang September Urlaub machen können.
Gute Familienplanung: Seine Ehefrau, ebenfalls Musikerin, wird fast gleichzeitig mit ihm in Rente gehen. Beide werden sich dann wohl ein Abo gönnen. »Ich werde meinen Kollegen dann aus dem Publikum zuhören – keinesfalls als graue Eminenz.«
Text: Angela Giese
Fotos: Michael Matejka; Staatsphilharmonie