Der in Erlangen lebende Schriftsteller Klaus Gasseleder, geboren 1945 in Schweinfurt, hat bislang hauptsächlich Bücher über Franken veröffentlicht. Weit fort von den heimischen Gefilden führten ihn jedoch die Recherchen für sein neuestes Buch, eine romanhafte Biografie seines gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Bosnien geborenen Großvaters mütterlicherseits.
Unsere Region ist schon seit vielen Jahrhunderten ein klassisches »Einwanderungsland«. Hans Max von Aufseß nannte Franken einmal den »weit offenen Innenhof Europas, in den alles Umliegende vielfach eingeströmt ist und sich dort gemengt hat«. Das ist für Klaus Gasseleder eine Sicht der Dinge aus sicherer historischer Distanz. Denn er hat bei der Suche nach den Spuren seines Großvaters erfahren, dass jener Vermengungsprozess für die konkret daran beteiligten Menschen wohl zu allen Zeiten auch mit Opfern und mit viel Leid verbunden war.
In seinem Buch erzählt er die Geschichte eines Arbeiterjungen vom halborientalischen Balkan, der bereits im Alter von zwölf Jahren durch die pure Not zu einem abenteuerlichen Wanderleben gezwungen wird. In der Folgezeit arbeitet er als Laufbursche, dann als Knecht, Kutscher, Lebensmittelverkäufer, Kantinenwirt und Eisenbahnarbeiter in diversen Gegenden der einstigen österreichisch-ungarischen Monarchie, bis er 1913, mittlerweile 27-jährig, als Fabrikarbeiter bei der Firma »Fichtel & Sachs« in Schweinfurt landet.
Klaus Gasseleder gehört zur sogenannten 68-er Generation, die erstmals in Deutschland die Auffassung vertrat, dass es nun Zeit sei, die eigene Geschichte in Besitz zu nehmen, die Geschichte der einfachen Leute. Gasseleders Großvater lebte von 1886 bis 1936, also in einer Epoche großer Umwälzungen, deren Auswirkungen bis heute spürbar sind. Es waren die Jahrzehnte, in denen die Industrialisierung die letzten Winkel Europas erreichte. Die Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel veränderte die Lebensumstände und die Mentalität der Menschen.
Die »modernen Errungenschaften« beeinflussten die Arbeitsweise ebenso wie das Verhalten nach Feierabend und den häuslichen Alltag. Weltgeschichtliche Veränderungen brachte der 1. Weltkrieg, der auf einen Schlag das gesamte politische Gefüge unseres Kontinents zerstörte. An allen Ecken und Enden entstanden neue Staaten, die ihre oft noch wackeligen Existenzen mit stramm nationalistischer Propaganda zu festigen versuchten.
Der Blick zurück ist für Gasseleder eine Form der Sinnsuche. Ein unverkrampfter Rückblick kann nach seiner Meinung helfen, gesellschaftliche Wege und Holzwege zu unterscheiden. In solcher Rückschau wird klar, dass vieles, was Denken und Handeln unserer direkten Vorfahren einst bestimmte, zu Recht verschwunden ist. Aber ebenso erkennbar wird andererseits, dass die Menschen des frühen Industriezeitalters Wertvorstellungen entwickelten, die auch uns Heutigen noch als moralische Richtschnur dienen können.
Für Klaus Gasseleder ist sein Großvater jedenfalls ein echtes Vorbild: ein Wissensdurstiger und Begeisterungsfähiger, ein durch die damaligen sozialen Umstände oft Benachteiligter, für den aber gerade deshalb die brüderliche Verbundenheit mit Seinesgleichen stets selbstverständlich war. Ein Sozialist und Pazifist, der seinen Idealen auch in der NS-Zeit treu geblieben ist.
Biografien von Berühmtheiten sind in der Regel relativ einfach zu schreiben, weil der Lebensweg solcher Leute deutliche Spuren hinterlassen hat. Gasseleder weiß inzwischen, wie viel schwerer die auf den ersten Blick fast spurlos vergangenen Erdentage der sogenannten einfachen Leute zu rekonstruieren sind. Das Ausgangsmaterial für die jetzt vorliegende biografische Erzählung war tatsächlich zunächst äußerst mager. Als er die Hinterlassenschaft seiner Mutter ordnete, stieß der Schriftsteller auf eine Mappe, die Fotos, einen Geburtsschein, Tauf- und Heiratsurkunden sowie Zeitungsausschnitte enthielt.
Das ungewöhnlichste Dokument war der im fernen Sarajewo ausgestellte Geburtsschein für einen Franc Zurman, Sohn einer ledigen Arbeiterin aus Slowenien, der später der Vater von Gasseleders Mutter werden sollte, also der Großvater des Erlanger Autors. Die Idee für ein Buch lieferte letztlich ein weiteres (umfänglicheres) Schriftstück: ein tabellarischer Lebenslauf, der ohne nennenswerte zeitliche Lücken sämtliche Arbeits- und Lebensstationen des Großvaters Franc Zurman auflistete.
Diese Liste nüchterner Daten nahm Gasseleder als Fahrplan in die Vergangenheit. Mit detektivischem Geschick sicherte er Spuren in Österreich, Italien, Bosnien und Slowenien. Dennoch blieben am Ende viele seiner Fragen unbeantwortet. »Mein Großvater selbst konnte mir ja nie etwas von sich erzählen, weil er bereits neun Jahre vor meiner Geburt gestorben ist«, berichtet der Familienforscher. »Und auch sonst habe ich nirgendwo mehr jemand angetroffen, der sich an ihn erinnern konnte.« So endete an allen Orten die Suche vor Grabsteinen mit halb verwitterten Inschriften.
Schließlich mussten schriftstellerische Vorstellungskraft und liebevolle Einfühlung das Fehlende ersetzen. Im »Prolog« seines Buches wendet sich Klaus Gasseleder direkt an seinen Vorfahr: »Ich will statt deiner erzählen. Ich werde deinen äußeren Lebenslauf und meine Vorstellung davon in einen Rahmen stellen, der von den Zeiten gebildet wird. Von der Zeit, in der du gelebt hast, und von der Zeit, in der ich lebe. Ich rede zu dir, als ob du neben mir säßest und mir ab und zu zunicktest, mit einem Nicken, das so viel bedeutete wie: Ja, so könnte es gewesen sein.«
Gasseleders Buch ist also keineswegs nur ein Stück personenbezogene Sozialgeschichte, sondern nicht zuletzt auch eine Dokumentation dessen, was im Englischen »a sentimental journey« heißt: eine durch und durch subjektive, emotionale Reise in die Landschaften der Seele.
Bernd Zachow