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»Wir brauchen ein soziales Pflichtjahr«

Die neue VdK-Präsidentin Verena Bentele ist erst wenige Monate im Amt, doch die blinde zwölffache Paralympics-Siegerin im Biathlon und Skilanglauf ist bereits durchgestartet. Im Gespräch mit dem Magazin sechs+sechzig erklärt Verena Bentele, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit als Präsidentin des mitgliederstärksten Sozialverbands Deutschlands setzt.
Verena Bentele tritt dafür ein, pflegenden Angehörigen mehr finanzielle Mittel zu gewähren. Foto: Susie Knoll/VdK

Die neue VdK-Präsidentin Verena Bentele ist erst wenige Monate im Amt, doch die blinde zwölffache Paralympics-Siegerin im Biathlon und Skilanglauf ist bereits durchgestartet. Im Gespräch mit dem Magazin sechs+sechzig erklärt Verena Bentele, welche Schwerpunkte sie in ihrer Arbeit als Präsidentin des mitgliederstärksten Sozialverbands Deutschlands setzt.

sechs+sechzig: Es gibt viele Punkte, die zur Verbesserung der Situation von Angehörigen pflegebedürftiger Menschen umgesetzt werden müssen. Was fehlt Pflegenden am meisten?
Verena Bentele: Ich kann mich schlecht entscheiden, was in der Prioritätenliste ganz vorne steht. Sicherlich ist ein Punkt die fehlende Unterstützung in der ambulanten Pflege bei alltäglichen Arbeiten. Hier brauchen die Angehörigen meist mehr Entlastung, die man kurzfristig anfordern kann. Die Angehörigen sind für alles selber zuständig. Auch wenn man das gerne macht, hat jeder nur eine begrenzte Kraft und daher ist regelmäßige Hilfe so wichtig.

Hat die letzte Reform mit Einführung der Pflegegrade zu kurz gegriffen?
Die Unterteilung in Pflegegrade ist auf jeden Fall besser als die Pflegestufen vorher. Dass Demenz ebenso Berücksichtigung findet wie körperliche Einschränkungen, ist ein echter Fortschritt. Das Problem ist nur, dass die Hilfen vor Ort nicht verfügbar sind. Etwas mehr Geld ist schon für viele Betroffene eine Erleichterung, aber wenn die benötigten Unterstützungsangebote fehlen, ist das zu wenig.

Warum sind die Angebote nicht verfügbar? Sind die Alltagshelfer zu schlecht bezahlt?
Alltagshelfer sollten eine gute Bezahlung für die Dienstleistung erhalten, ebenso wie Pflegekräfte. Wie soll in Nürnberg oder München ein Alltagshelfer von seiner Arbeit leben, wenn die Mieten und die Lebenshaltungskosten insgesamt sehr hoch sind? Wir müssen diese Berufe besser bezahlen. Außerdem plädiere ich für die Einführung eines verpflichtenden gesellschaftlichen Jahres für junge Menschen. Diese könnten dadurch soziale oder ökologische oder andere gemeinnützige Berufe kennenlernen. Der eine oder die andere würde nach dieser Erfahrung vielleicht eher den Pflegeberuf ergreifen. Ganz klar ist, dass das soziale Jahr oder auch ehrenamtlich Engagierte keine professionellen Kräfte ersetzen. Damit mehr Menschen den Pflegeberuf ergreifen ist der Wegfall des Schulgeldes positiv.

Es gibt ja den Bundesfreiwilligendienst, auch Bufdi genannt. Der hat sich nicht wirklich durchgesetzt, oder?
Diejenigen, die den Bundesfreiwilligendienst machen, finden die Erfahrungen wertvoll. Jedoch nehmen sich zu wenige junge Menschen die Zeit für diese Erfahrungen. Ich bin dafür, dass die jungen Menschen das gesellschaftliche Jahr vergütet bekommen. Ihnen steht eine angemessene finanzielle Entschädigung zu.

Hat man zu lange auf die Ehrenamtlichkeit gesetzt, wenn es um Pflege geht?
Die Angehörigen sind der größte ehrenamtliche Pflegedienst im Land. Es gibt aber nicht nur den Weg, entweder man wird von der Familie zuhause gepflegt oder man geht ins Heim. Es gilt, die Menschen in den verschiedenen Phasen zu begleiten.

Sie möchten den VdK für jüngere Menschen öffnen. Ist das ein Schritt zur Verstärkung der Solidarität unter den Generationen?
Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht dringend Verständigung und Solidarität zwischen den Generationen. Es geht gar nicht, dass man Personengruppen gegenein­ander ausspielt. Es ist wichtig, Brücken zu bauen. Es darf nicht heißen: Entweder wir investieren in Bildung oder in die Pflege.

Wenn Sie ein Jahr lang den Betrag des gesamten Solidaritäts­zuschlags für Verbesserungen in der Pflege ausgeben könnten, in welche Bereiche würden Sie dieses Geld investieren?
Auf jeden Fall würde ich mehr Menschen anwerben und anstellen. Gerade für kleinere Einrichtungen würde ich Mittel zur Verfügung stellen. Zudem sollte in die bessere Ausstattung mit Hilfsmitteln investiert werden und in eine verbesserte Reha. Es wäre wichtig, mehr Gesprächsgruppen, Physiotherapie auch für Angehörige und ähnliche Angebote zu schaffen.

Sie haben die Einführung eines Pflegejahrs angeregt, das ähnlich wie das Erziehungsjahr Angehörigen von pflegebedürftigen Menschen zugute kommen soll. Das umfasst auch ­finanzielle Leistungen für einen bestimmten Zeitraum. Was für eine ­Resonanz haben Sie auf Ihren Vorstoß erhalten?
Ich habe viel Unterstützung für meine Forderung von VdK-Mitgliedern erhalten. Das Gesundheitsministerium und die Gesundheitspolitiker beschäftigen sich mit dem Vorschlag. Ich habe damit eine Debatte angestoßen.

Wie stehen Sie zur digitalen Komponente in der Pflege, kann der Einsatz von moderner Technik die Situation auf dem Pflegesektor verbessern?
Ich finde die Digitalisierung an sich positiv. Natürlich immer in dem Wissen, dass Technik den Menschen nur ergänzen kann. Ich habe selber von der Digitalisierung profitiert, weil sie mir Erleichterung in meinem Arbeitsalltag bringt. Um es noch einmal zu betonen: Der Pflegeroboter kann die menschliche Pflegekraft nicht ersetzen.

Angehörige müssen schon heute viel hinzuzahlen, wenn es um die Pflege geht. Ist ihre Angst berechtigt, dass sie auch den verbesserten Pflegestandard und den Einsatz von digitalen Hilfsmitteln bezahlen müssen?
Am Ende können nicht die Angehörigen, beziehungsweise die Familie, diese Kosten auffangen. Ohne Zuschuss aus Steuergeldern geht das nicht.

Interview: Petra Nossek-Bock

Am Freitag, 14. September, ab 13.30 Uhr veranstaltet das ­Magazin sechs+sechzig im Seniorenzentrum Bleiweiß, Hintere Bleiweißstraße 15, in Nürnberg eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Seniorenamt der Stadt Nürnberg zum Thema: Bessere Pflege, wer soll das bezahlen? Den Auftakt macht ein Referat von Nürnbergs Sozialreferent Reiner Prölß. Anschließend werden Manfred Lang vom Stadtseniorenrat, Christine Limbacher, VdK, und Pflegestammtisch sowie Barbara Kuhn von der Fachstelle Pflegende Angehörige der Alzheimer Gesellschaft über die verschiedenen Formen der Finanzierung von Pflege diskutieren, welche Rolle Angehörige dabei übernehmen und was sich ändern muss. Die Leserinnen und Leser des Magazins sechs+sechzig sind herzlich eingeladen, die kostenlose Veranstaltung zu besuchen. Nehmen Sie sich bitte ein paar Minuten Zeit und schreiben Sie Ihre persönliche Frage an die Expertenrunde auf. Sie können uns Ihre Themen bereits vorab per Mail schicken an: info@magazin66.de Zum Abschluss gibt es ein Referat von Innenarchitektin Carmen Dittrich über Pflege und Technik in den eigenen vier Wänden, ihre Chancen und Tücken. Verena Bentele tritt dafür ein, pflegenden Angehörigen mehr finanzielle Mittel zu gewähren.

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