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Demonstration gegen den Vietnamkrieg 1969 in Nürnberg mit reger Beteiligung. Foto: NN-Archiv

In die alte Schulbank im Nürnberger Schulmuseum sind Namen geschnitzt. Es sind wohl die Namen von Schüler-Idolen so um 1960 herum; damals kam ich selbst gerade aufs Gymnasium. Das sind noch nicht die Namen von Revolutionären. Kein Che Guevara, kein Rudi Dutschke. Stattdessen liest man: Pat Boone, Elvis, James Dean, Rock Hudson. Sind das Namen, die schon auf ein Unruhepotenzial der Nürnberger Schülerschaft hindeuteten? Können diese Schriftzeichen als Vorboten des Aufbegehrens von 1968 gelesen werden?

Von Herbert Heinzelmann

Ja, für Mathias Rösch, dem Leiter des Schulmuseums Nürnberg (Bindeglied zum Pädagogik-Lehrstuhl an der Friedrich-Alexander-Universität), haben die Einritzungen durchaus etwas Prophetisches. Sie stehen für eine kulturelle Öffnung in den Schülerköpfen. Die Schulbank gehört deshalb zu den Objekten, mit denen Rösch eine Sonderausstellung im Museum vorbereitet. Sie soll im kommenden Jahr (Juli bis Oktober) die Unruhen an Nürnbergs Schulen dokumentieren, die zum Explosiv-Stoff dieses Datums gehören, auch wenn man oft bloß von einer Studentenrevolte spricht.

Ja, 2018 ist Jubiläumsjahr. Luther wird dann endlich vergessen sein. Aber 1968 wird 50 Jahre alt. Die Achtundsechziger sind in die Jahre gekommen. Sie gehören jetzt zur Zielgruppe dieses Magazins. Und irgendwie dürften alle Zeitgenossen in die Ereignisse des mythischen Jahres verstrickt sein, auch wenn sie sich heute lieber nicht mehr daran erinnern. Selbst als Mitglied des RCDS (Ring Christlich Demokratischer Studenten) und seiner Schülerorganisationen hat man damals schließlich Position bezogen. Gegen die Revoluzzer! Damit hat sich immerhin auch in diesen Kreisen endlich was bewegt. Bis dahin war eine gesellschaftliche Erstarrung über der Bundesrepublik gelegen. An den Schulen herrschten autoritäre Strukturen wie zu den Zeiten des Kaisers oder des »Führers«. 1968 brachen sie auf.

Aber die Risse im Packeis hatten sich früher gebildet. Zu diesem Ergebnis ist Mathias Rösch bei seinen Ausstellungsvorbereitungen gekommen: »Es gab schon längst ein kleines Knirschen im Gebälk. Es gab Widerstand gegen Lehrer, von denen viele immer noch prügelten. 1967 haben in Frankfurt Schülerinnen einen Fragebogen zum realen Umgang mit der Sexualität in Umlauf gebracht. Das hat für viel Wirbel gesorgt, denn offiziell war das weiterhin ein Tabuthema, in den Schulen erst recht. Aber die Mädchen hatten schon lange angefangen, die Pille zu nehmen.«

Rolle der Schüler wird unterschätzt

Mathias Rösch ist quasi archäologisch auf den Spuren gesellschaftlicher Verwerfungen unterwegs. Archäologie hat der geborene Münchner studiert, Geschichte ebenso. Als er sich für Pädagogik zu interessieren begann, legte er den Schwerpunkt zunächst auf Schulgeschichte. Inzwischen erforscht er die Rolle der Schule in sozialen Entwicklungen. »1968 war eine ganz wichtige Bewegung. Sie hat dieses Land stark verändert, liberalisiert, den ›Muff von 1000 Jahren‹ aufgewirbelt, den man damals ja im Schlagwort bekämpfen wollte. Nur bin ich der Ansicht, dass Schüler dazu viel mehr beigetragen haben als die Studenten, die als Avantgarde gelten. Die waren zum Teil überradikalisiert. Praktisch gewirkt, demokratisiert haben die Schüler.«

Auch in Nürnberg? Auch in dieser scheinbar so ruhigen Nische altfränkischen Beharrungsvermögens? »An nahezu jedem Nürnberger Gymnasium geschah etwas«, sagt Mathias Rösch. »Lehrer wurden zu unbequemen Themen wie dem Nationalsozialismus genötigt. Unterrichtsformen wurden infrage gestellt. Das Rauchen in den Pausen spielte eine ganz große Rolle. Sexualität wurde als Unterrichtsstoff eingefordert. Schülerzeitungen löckten wider den Stachel. Es ging nicht nur um Demonstrationen.«

Auch die fanden in Nürnberg selbstverständlich statt. Haupt-Aufhänger waren der Vietnamkrieg und die Notstandsgesetzgebung. Ende April 1968 waren rund 6.000 Schüler und Studenten gegen die Notstandsgesetze in der Stadt unterwegs. Am 16. Mai kam es zu einer Blockade der Straßenbahn vor der Lorenzkirche.
Ich selbst war mit meiner ganzen 13. Klasse dabei, damals Schüler des Neuen Gymnasiums, einer Lehranstalt mit konservativem Ruf. Doch auch in ihren heiligen humanistischen Hallen rumorte es. Direktor Alexander Schäfer öffnete die Turnhalle für eine Schülerversammlung. Aus dieser Versammlung sind wir zur Lorenzkirche gezogen. Viele Kameraden mit eigentlich schwarzer Gesinnung beteiligten sich leuchtenden Auges an der Sitzblockade. Protest reißt mit.

Ja, wir waren alle dabei. Ich war dabei. Deswegen habe ich mich Mathias Rösch als Zeitzeuge zur Verfügung gestellt. Wie gestaltet man denn eine Ausstellung zum 50. Jubiläum von 1968? Rösch: »Es muss natürlich Dreidimensionales vorhanden sein, Objekte. Da sind wir momentan noch etwas papierlastig. Wir werden mit Bänken arbeiten, an denen die Besucher selbst mit Objekten spielen können. Und wir wollen Hörstationen aufbauen. Sechzehn Zeitzeugen haben wir bisher vernommen. Auf fünfunddreißig würden wir gern kommen. Persönliche Erfahrungen sind wichtige Puzzle-Stücke für das Gesamtbild.«

In Nürnberg haben die Tage von 1968 ihren Höhepunkt am 26. September 1969 gefunden. Damals haben rund 15.000 Menschen einen Wahlkampf-Auftritt der NPD am Egidienberg verhindert. Es gab einen Wasserwerfer-Einsatz und massive Polizeipräsenz. Anschließend liefen Demonstrationszüge durch die Stadt. Vor dem Hauptbahnhof brannten Wahlplakate. Es kam zu einer Mini-Schlacht, und viel revolutionäres Adrenalin fuhr in die Adern. Damit klang die 68er-Revolution in Franken aus. Aber ihren eigentlichen Erfolg hat sie womöglich gar nicht auf den Straßen erreicht, sondern in den zähen, widerständigen Aktivitäten von Schülern über Jahre hinweg. Die Bundesrepublik Deutschland wurde zu einem liberal durchlüfteten Land. Das möchte Mathias Rösch mit seiner Jubiläumsausstellung 2018 im Nürnberger Schulmuseum zeigen.

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