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Foto: privat
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Neulich stieß ich beim Stöbern in meinem Bücherregal – auf der Suche nach geeigneter Literatur für die 12-jährige Tochter eines Freundes – auf meine alten Nesthäkchen-Romane von Else Ury. Ihr Klassiker der Backfischliteratur gehört für mich genau wie „Der Trotzkopf“ von Emmy von Rhoden zu ganz vertrauten Leseerlebnissen meiner Kindheit. Eine Zeit lang war ich verwundert, dass viele andere Frauen meines Alters die Bücher nicht kannten. Irgendwie dachte ich immer, dass diese Literaturklassiker in jedem (Mädchen-)Kinderzimmer zu Hause wären. Aber scheinbar ebbt die Weitergabe von Generation zu Generation nun doch etwas ab. Deshalb habe ich mich gefragt, ob diese Bücher mit ihrem Mädchen- und Frauenbild aus Kaiserzeit und Weimarer Republik noch der richtige Lesestoff für heutige Kinder sein könnten. Schließlich ging es bei allen schelmischen Streichen ja am Ende doch immer darum, dass aus den Protagonistinnen irgendwann fleißige und artige Hausfrauen und Mütter werden – einerseits. Auf der anderen Seite passte das auch in den 90ern, als ich die Bücher las, schon lange nicht mehr in die Zeit. Und dennoch wurde ich mich beim Lesen der Romane gut unterhalten und bin nicht zu dem Schluss gekommen, dass ich als „brave Hausfrau“ und meinem Manne untergeordnet leben müsse. Und spannend war es ja schon, mal so einen Einblick in das Leben jener Zeit zu bekommen. Vielleicht hätte ich die Bücher also doch nicht gleich im Regal nach hinten schieben und damit als ungeeignet für die nach Lesestoff suchende junge Dame einstufen sollen. Mit ein bisschen Erklärung und Begleitung hätte sie die Geschichten vielleicht mit Freude gelesen. Und wenn nicht, dann hätte sie sich wenigstens selbst ihre Meinung dazu bilden können. Neben dieser Erkenntnis habe ich übrigens noch etwas Wichtiges über die Schriftstellerin Ury gelernt, als ich ein bisschen über sie nachlas. Ich wusste nicht, dass Ury Jüdin war und von den Nationalsozialisten verfolgt und im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden war. Ihre Bücher waren mir also vertraut, nicht jedoch ihr tragisches Schicksal. So ist das manchmal mit dem Stöbern in alten Sachen, man entdeckt doch immer wieder neues Wissen oder andere Perspektiven. Allein dafür hat sich der Blick ins Regal ja schon gelohnt – egal, ob das Nesthäkchen aus dem Regal geholt wird oder nicht.

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