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Mancher stört sich an der allgegenwärtigen Duzerei. Zeichnung: Seabstian Haug
Mancher stört sich an der allgegenwärtigen Duzerei. Zeichnung: Seabstian Haug
Hallo, kommt rein. Ich bin die Waltraut. Wir duzen uns hier alle.« Hm… ich blicke umher. Lauter ältere und alte Damen im Sportdress. Eigentlich wollte ich bloß ein bisschen Gymnastik machen und mir nicht auf die Schnelle ein Dutzend Duz-Bekanntschaften zulegen. »Schau nicht so hochnäsig«, flüstert meine Freundin Heide mir zu und nickt fröhlich in die Runde.
Nach einer Stunde Training erholen wir uns beide im Coffeeshop. »Heute ist man nicht mehr so förmlich«, macht mir Heide klar, als ich mit dem Gemosere nicht aufhören kann. »In der Firma meiner Tochter sagen alle du zueinander, vom Vorgesetzten bis zum Lehrling!«
»Und, verbessert das das Betriebsklima«, will ich wissen. »Keine Ahnung, vielleicht schon«, meint Heike, schaut aber etwas zweifelnd: »Man hört ja auch so einiges Negative von diesen Unternehmen, bei denen die Duzerei üblich ist.«
Mein Fall wäre das ohnehin nicht gewesen, als ich mich noch mit einem Chef auseinandersetzen musste. Ich stelle mir vor, wie ich sein Büro geentert hätte mit einem flotten: »Hallo, Karl-Heinz, ich hätte da mal was mit dir zu bereden.« Ob sich die Probleme schneller gelöst hätten als beim höflichen Anklopfen und dem üblichen: »Guten Morgen, Herr Meier, dürfte ich Sie mal kurz sprechen.«?
»Die Dinge ändern sich eben«, stellt Heide fest. »Schau dich doch mal um.« Das mache ich, kann aber nichts Besonderes feststellen. Lauter junge und ältere Leute, wie wir auch sie meist sportlich gekleidet in Jeans und Pullis, die sogenannte Outdoor-Jacke über die Stuhllehne geworfen.
»Und? Was siehst du…?« – »Na, in dieser Kluft wäre früher keine Dame nachmittags ins Café gegangen, ja nicht einmal morgens zum Einkaufen«, gebe ich zu. – Heide: »Sondern?« »Aufgebrezelt würde man heute sagen. Ich denke da an meine Tante. Sie war Zahnarztgattin und sehr auf vermeintlich elegante Lebensart bedacht. Ihr Dienstmädchen musste sie mit Frau Doktor anreden und mittags, wenn sie der Herrschaft serviert hatte, allein in der Küche essen. Einmal pro Woche traf sich ›Frau Doktor‹ zum ›Kränzchen‹ mit ihren Freundinnen im Café. Dann erschienen die Damen in der Regel im eleganten Schneiderkostüm, mit dezenter Halskette, Hut und Handtasche, farblich fein abgestimmt mit den Schuhen. Ganz so, wie es Erica von Pappritz vorschrieb.«
Ach ja, Frau von Pappritz war zwar nicht von Adel, ließ sich aber gern so titulieren. Sie war in den fünfziger und sechziger Jahren eine würdige Nachfolgerin des Freiherrn von Knigge, der ganzen Generationen das feine Benehmen beibrachte. In dem aus den Fugen geratenen Nachkriegsdeutschland ließ man sich gern über den guten Ton in allen Lebenslagen belehren. Seitenlang informierte »die Pappritz« ihre Leserschaft unter anderem über die korrekte Anrede hochgestellter Persönlichkeiten für den Fall, dass das gemeine Volk unerwartet in höhere Kreise katapultiert werden sollte. Penibel beschrieb sie den Umgang mit Hummergabel und Schneckenzange und empfahl die Benutzung von Fingerschalen nach dem Verzehr von Spargel, Artischocken oder Krebsen. Speisen, bei denen man, o Graus, die Finger zu Hilfe nehmen durfte.
»Ich wäre ja schon froh, wenn meine Zeitgenossen beim Essen die Ellbogen heben würden«, meckere ich schon wieder. »Und nicht aus der Flasche trinken«, schiebe ich nach. Meine Freundin nickt ergeben, sie kennt mich schon länger: »Immer etepetete, was?«
»Etepetete? Heute würde man wohl eher sagen ›zickig‹. Egal, damit kann ich leben.«
Brigitte Lemberger
Cartoon: Sebastian Haug

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