Die Journalistin Martina Rosenberg, Jahrgang 1963, ist mit ihrem schonungslosen Bericht über die letzten Jahre ihrer Eltern ein Wagnis eingegangen. Ohne Beschönigung beschreibt sie den Verfall ihrer Mutter, die in den Jahren 2003, 2004 (ganz genau ist der Beginn nicht auszumachen) an Demenz erkrankt und in der Folgezeit alles verliert, was einmal ihre Persönlichkeit ausmachte. Sie, zuvor eine liebevolle, lebensfrohe Ehefrau und Mutter von drei Kindern, kann ihren Alltag nicht mehr bewältigen. Nach und nach gehen ihr nicht nur die geistigen, sondern auch die körperlichen Fähigkeiten verloren. Nach einem Sturz, dem später weitere folgen, ist sie an den Rollstuhl gefesselt, in dem sie fortan ihre Tage durchleidet. Ihr Ehemann, ehemaliger Schulrektor, reagiert ungeduldig und oft unvernünftig auf den Zustand seiner Frau. Nach einem Schlaganfall ist er selbst behindert: Sprach-, Hör- und Sehvermögen sind beeinträchtigt. Dass sich die Aufmerksamkeit seiner Umgebung verstärkt seiner Frau zuwendet, verkraftet er kaum und wird zunehmend schwer erträglich.
Die Situation spitzt sich zu, vor allem für die berufstätige Tochter Martina, die mit Mann, Kind und Hund im elterlichen Haus wohnt und somit verantwortlich für Erste Hilfe oder Transportdienste wird. Dank der finanziellen Ausstattung des alten Paares ist es immerhin möglich, neben dem Ambulanten Pflegedienst zusätzlich eine, später zwei Pflegerinnen einzustellen, die sich um die Kranke und ihren gesundheitlich angeschlagenen Partner kümmern. Dennoch ist die junge Familie im Obergeschoss pausenlos gefragt. Am schwersten wiegt die psychische Last: den Verfall der geliebten Mutter mitanzusehen und den bewunderten Vater als nörglerischen, schwierigen alten Mann zu erleben. Schließlich zieht Tochter Martina die Reißleine und beschließt mit Zustimmung ihres Mannes, ein eigenes Haus zu bauen und dort zu leben, ein paar Straßen entfernt von den Eltern.
Nun sind es Besuche, die absolviert werden; es gilt, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen mit der Formel, dass auch Kinder einen Anspruch auf das eigene Leben haben. In den letzten Tagen und Stunden der Mutter ist Martina bei ihr, sieht ihre Mühsal und hält ihre Hand. Der Vater stirbt einige Monate nach seiner Frau.
Martina Rosenberg beschreibt den Prozess der Erkrankung, des Leidens und Verfalls ihrer Eltern ohne falschen Ton. Sie macht auch deutlich, wie sehr sich aufgrund der Vielfach-Belastung das Leben in ihrer eigenen kleinen Familie kompliziert. Wie sie selbst an den Rand der Erschöpfung gelangt, mit Schlafstörungen, Tinnitus und Reizbarkeit kämpft und nur den einen Wunsch hat: dass dieses Elend bald ein Ende fände. So deutlich wie diese Autorin hat selten eine Tochter, ein Sohn den Mut besessen, offen zu diesem Satz zu stehen: »Mutter, wann stirbst du endlich.«
Das Buch ist flüssig geschrieben, schnell zu lesen und lässt einen lange nicht los. Erschreckend in seiner Aufrichtigkeit, konfrontiert es den Leser mit seinen eigenen Gefühlen und Gedanken – vor allem wohl, wenn man selbst in ähnlicher Situation war oder ist. Vielleicht ist das Wichtigste an diesem Buch die Debatte, die es auslösen kann.
Brigitte Lemberger